16. Januar 2022

Essen auf Stahlträger

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Es ist DAS Hochhausbaustellenfoto schlechthin und trotzdem weiß man erstaunlich wenig über die abgebildeten Menschen und war bis vor kurzem auch nicht sicher wer dieses Bild gemacht hatte.


Transkript

Welche Fotos fallen uns ein, wenn wir an berühmte Fotografien aus New York denken?

Vielleicht ein Bild vom Empire State Building oder eine Aufnahme des Flatiron Gebäudes oder vielleicht ein Foto vom Time Square. Ohne Frage spielt die Architektur New York Citys in Fotos aus New York eine der Hauptrollen. Ist ja auch kein Wunder, die Architektur New York Citys ist ja auch atemberaubend. Dabei entstanden die ersten ikonischen Wolkenkratzer New Yorks Anfang des 20. Jahrhunderts. Und sie waren Wunderwerke der Technik und Ingenieurskunst. Gebäude wie das Empire State Building wurden mit einem Anlegemast für Luftschiffe konstruiert. Und die Hochhäuser lieferten sich Rennen, wer das höhere Dach, die höhere Antenne konstruieren könnte. Und Hochhäuser waren fantastisch genug, dass Zeitungen immer wieder über die Bauarbeiten berichteten.

Die meisten dieser Gebäude waren als Investitionsobjekte gedacht und wurden während der Bauzeit nach und nach untervermietet. Und deswegen hatten die Bauherren in aller Regel ein lebendiges Interesse daran, die Gebäude im Gespräch zu halten.

Und deswegen wurden gerade Projekte wie der Bau des Empire State Building oder wie des Chrysler Building von eigene PR-Teams begleitet. Fotostrecken wurden erarbeitet, die Presse wurde mit Informationen gefüttert, je öfter man sich ins Gespräch bringen konnte, desto besser.

Fotografisch war es gleichzeitig eine Zeit, in der Industriefotografie und Werbefotografie ihre ersten Erfolge feierte. Margaret Bourke-White hatte sich einen Namen gemacht, indem sie gewaltige Industrieanlagen wie zum Beispiel Staudämme oder Stahlgießereien fotografiert hatte.

Und bekam nun den Auftrag den Bau des Chrysler Buildings zu dokumentieren. Ein Luis Hine eigentlich ein Fotograf, der sich mit den Arbeitern am Boden und deren Armut und Zwänge beschäftigte, bekam den Auftrag, die Arbeiten am Empire State Building zu dokumentieren. Und beide schufen Bilder, die einen auch heute noch schwindlig werden lassen. Es ist eine Zeit, in der der Blick von Hochhausdächern hinein in die Straßenschluchten New Yorks ikonisch wird. In den USA sind Boomjahre und es ist diese Zeit, in der sich Charles Ebbet einen Namen macht. Seine erste Kamera bekommt er als er acht Jahre alt ist. Eine Kodak Brownie, eine Kamera also, die in erster Linie super einfach zu bedienen ist. Und zum ersten Mal Fotografie für alle verfügbar machte. Finanziell ging es den Ebbets nicht allzu gut und so musste Charles seine Schule nach der zehnten Klasse abbrechen und einen Weg finden Geld zu verdienen. Sein Vater hatte beruflich mit Zeitungen zu tun und so beschloss auch Charles sich, als Reporter zu verdingen.

Das war auch grob die Zeit, in der ihm der Gedanke kam, dass er auch seine Kamera benutzen könnte, um damit Geld zu verdienen. Aber allgemein kann man sagen, hat Charles so manches ausprobiert. Er zog von Alabama nach Florida und dort versuchte er sich eine Weile als Schauspieler aber das war eigentlich das harmloseste seiner Hobbys, denn außerdem machte er sich einen Namen als sogenannter „Wingwalker“. Als jemand, der bei Flugschauen aussteigt aus dem Flugzeug und auf der Tragfläche herumturnt, er fuhr Autorennen, für eine Weile war er Wrestler, er jagte und wenn die Kohle mal wieder eng war, dann stieg er in den Ring und erboxte sich Preisgelder. All diese Hobbys dokumentierte er routiniert mit seiner Kamera und machte sich einen Namen, als einer der in der Lage war ungewöhnliche Fotografien zu produzieren.

Und einige seiner Projekte sorgten dafür, dass Zeitungen im ganzen Land seine Fotostrecken veröffentlichten, unter anderem auch die New York Times.

Wir haben die Dreißigerjahre, die Weltwirtschaftskrise hat die USA fest im Griff und das betrifft natürlich auch die Bauprojekte in den Großstädten. In New York hatte die New York Opera einen ehrgeizigen Plan. Sie wollten einen Gebäudekomplex schaffen, in dem Hochkultur endlich ein angemessenes Zuhause finden würde. Und sie hatten einen begeisterten Unterstützer: John Rockefeller. Nach dem schwarzen Freitag wurden aber drastische Einsparungen nötig und dadurch wurde schnell klar, dass die Oper dieses Projekt nicht mehr würde finanzieren können. Eine Alternative musste also her. Wie schon vorher das Empire State Building oder das Chrysler Building würde man nun Hochhäuser bauen, die nach und nach an finanzkräftige Unternehmen vermietet werden sollten. Die 19 Gebäude, die zum Rockefeller Center gehörten, wurden zum Teil umgewidmet, Shopping, Büroflächen, Kulturangebote, hochpreisige Mietangebote, all das wurde in dem Gebäudekomplex zusammengebracht. Jetzt war es nur noch notwendig passende Mieter zu finden, eine Publicity Strategie musste her und es brauchte jemanden, der großartige Fotografie rund um dieses Projekt schaffen könnte.

Ein Team wurde zusammengestellt, insgesamt vier Fotografen würden den Bau begleiten. Und die Leitung dieses Teams und die Auswahl der Bilder wurde Charles Ebbet übergeben. Es wurden noch Investoren gesucht und so begleitet Charles mehrere Monate lang insbesondere den Bau des höchsten Gebäude des Komplexes. Des sogenannten RCA-Buildings. Es ist eine Zeit, in der in New York viele verschiedene Aspekte zusammenkommen. Die USA sind Einwanderungsland und besonders in New York versuchen viele ihr Glück, es ist die Great Depression, also die Weltwirtschaftskrise, aber in den Städten und den Großbauprojekten sehen viele noch eine Chance Geld zu verdienen. Und tatsächlich kann man als Arbeiter recht einfach bei den großen Hochhausprojekten anheuern. Es ist ein Cliché, dass besonders bei den Hochhausbaustellen eine große Anzahl der Arbeiter von den amerikanischen Ureinwohnern rekrutiert wurde, die wären nämlich besonders schwindelfrei, so heißt es. In Wirklichkeit fand man auf den Baustellen aber alle möglichen Nationalitäten. Besonders Italiener und Iren waren zu der Zeit in größere Zahl in New York eingetroffen und stellten dann eben die Arbeiter. Wer also schwindelfrei genug war und bereit war den Sturz in den Tod zu riskieren, konnte relativ schnell ein recht gutes Gehalt haben und noch dazu einer Arbeit nachgehen, die im ganzen Land positiv gesehen wurde. Die Arbeiter in den Hochhäusern arbeiteten am Fortschritt mit. Und Charles und sein Team schufen Bildstrecken, die diese Arbeiter feierten. So auch am 20. September 1932, das Wetter ist großartig, man hat freie Sicht über den Central Park, die Sonne scheint und es ist hell genug, dass man auch mit den Kameras, die damals üblich waren, hervorragend fotografieren konnte. Gearbeitet wird mit sogenannten Reportagekameras, das sind, für heutige Verhältnisse, recht große, für damalige Verhältnisse aber sehr kompakte Kameras, die auf Glasplatten belichteten. Auf denen war eine trockene Emulsion aufgebracht und man musste nach jeder Belichtung die Glasplatte entfernen und durch die nächste unbelichtete Glasplatte ersetzen. Das Verbrauchsmaterial trugen die Fotografen in einer Ledertasche über die Schulter geworfen. Und so turnten sie wie die Bauarbeiter auf Stahlträgern in zum Teil schwindelerregender Höhe herum und gaben Anweisungen. Das Ziel war originelle Fotos zu machen. Und so lies man Bauarbeiter so tun als, wenn sie auf Stahlträgern schlafen würden oder ließ sie mit einer amerikanischen Flagge so stehen, dass es aussah als würden sie auf das Empire State Building eine Flagge aufsetzen. Und dann schießen sie das ikonische Foto schlechthin.

Am zweiten Oktober wird der „New York Herald Tribune“ das Foto unter der Schlagzeile „Lunch atop a Skyscraper“ veröffentlichen. Es zeigt den Blick Richtung Central Park, ein Stahlträger geht in der Mitte durchs Bild, als Betrachtende können wir nur erahnen, wie tief es wohl unter diesem Stahlträger in den Abgrund gehen mag. Und auf diesem Stahlträger sitzen elf Arbeiter und machen Brotzeit, bzw. halten Brotzeitgegenstände in den Händen. Nur ein einziger Arbeiter schaut direkt in die Kamera und beim schrägen Blick auf die Häuserschluchten unterhalb der Baustelle kann einem wirklich schwindelig werden. Das Foto ist erfolgreich, so erfolgreich, dass es bis heute hunderte Male nachgeahmt wurde.

New York kann man nicht besuchen, ohne diesem Bild nicht an allen möglichen Stellen zu begegnen und es wird weltweit wiedererkannt. Es ist eines der Bilder mit dem höchsten Wiedererkennungswert überhaupt. Allerdings wissen die Wenigsten, wer dieses Foto aufgenommen hat und wo es überhaupt gemacht wurde. Selbst Amerikaner geben auf Nachfrage an, dass das Bild auf dem Empire State Building geschossen wurde. Und irgendwann zog im Internet das Gerücht ein, dass Lewis Hine, der Fotograf am Empire State Building begleitet hatte, der Urheber dieses Foto gewesen sei. Da half es jetzt auch nicht, dass jahrelang vollkommen unklar war, wer das Bild gemacht hat. Alle Fotografen, die an dieser Baustelle tätig waren, hätten theoretisch diese Aufnahme machen können. Es gibt Bilder von diesem Tag, die Charles Ebbets zum Beispiel bei der Arbeit zeigen, wo er allein auf irgendeinem Stahlträger herum balanciert, während er seine Kamera bedient. Überhaupt sah man Fotografien damals seltener als Kunstwerke an und öfter als ein technisches Produkt. Die Fotografen waren also eher Operateure fotografischer Maschinen, als Künstler oder Urheber eines besonders schützenswertem Werkes.

Die Arbeiter waren damals sowieso egal und so steht auf dem Originalglasnegativ, das übrigens auch schon ziemlich mitgenommen ist, weder eine Liste der Namen der abgebildeten Personen, noch der Name des Fotografen. Das Bild selbst war auch nicht von Anfang an so ikonisch, sonst hätte man sich vielleicht noch die Mühe gemacht. Erst Jahrzehnte später wurde das Bild zu einem Standard-Postkartenmotiv. Und ab jetzt gönnten sich die New Yorker Zeitungen auch alle paar Jahre mal den Spaß, nach den Personen auf dem Foto zu fanden. Unzählige Kandidaten meldeten sich, hätten die alle recht und ihre Onkel, Väter, Großväter wären tatsächlich die Personen auf dem Stahlträger in dem Bild, dann wären da nicht elf, sondern wahrscheinlich hundert Leute gesessen.

Es ist eine Dokumentation aus dem Jahr 2003, die das Ganze nochmal aufarbeitet und gezielt auf die Suche geht. Sie finden nicht nur zwei der elf Männer und können sie eindeutig identifizieren, sondern schaffen es auch in Zusammenarbeit mit den Nachkommen von Charles Ebbets, zweifelsfrei nachzuweisen, dass er tatsächlich der Fotograf dieser ikonischen Aufnahme war. Es darf aber bezweifelt werden, dass Ebbets selbst dieses Foto als sein Wichtigstes beschrieben hätte. Für ihn war dieser Einsatz am Rockefeller Center sowieso nur ein zehnmonatiger Teil seiner viel länger dauernden Karriere. 1933 zog er wieder von New York zurück nach Florida und beschäftigte sich dort mit der Natur und den Ureinwohnern in den Everglades. Er wird erst „Official-Associated-Press-Photograph“ in der Region und gründet dann später die „Miami-Press-Photographers-Association“ und wird deren erster Präsident.

Als Pressefotograf reist Ebbets um die Welt und fotografiert die verschiedensten Ereignisse, kehrt aber immer wieder in die Everglades zurück, um dort zu fotografieren. Eine Rückenverletzung bewahrt in davor im 2.Weltkrieg als Soldat eingezogen zu werden, weil er aber einen Pilotenschein hatte, setzte ihn die US-Airforce als Fotograf in den Ausbildungszentren in Florida und Südamerika ein. ALs der Zweite Weltkrieg endet, kehrt Ebbets wieder zu seinem Zivilleben zurück und wird Cheffotograf der City oft Miami. Ja, das gibt es als Position. Fotografisch wird er jetzt auch ruhiger. Er fotografiert die Tiere und Landschaften der Everglades bevor er mit 72 Jahren 1978 an Krebs erkrankt und stirbt.

Sein Nachlass und sein Bildarchiv verwaltet seine Tochter und so kann man inzwischen online eine ganze Reihe seiner Werke sehen.

Das Bild „Lunch atop a Skyscraper“ gehört der Bildagentur Corbis und die bröckeligen Originalnegative sind schon lange nichtmehr dafür geeignet, um von diesem Foto korrekte Abzüge zu machen.

Und trotzdem ist es irgendwie schön, dass dieses Foto die Arbeiter feiert, die Gebäude wie das Rockefeller Center überhaupt erst möglich gemacht haben. Und dass es 25-jährige Abenteurer waren, die mit ihren Kameras ikonische Bilder geschaffen haben, die danach um die Welt gegangen sind. Da ist es dann auch fast schon wieder verzeihbar, dass dieses Foto zusätzlich noch mit der Perspektive spielt. Und der Stahlträger vermutlich gar nicht 200 Meter in luftiger Höhe, sondern eher eineinhalb Meter über einem geschlossenem Stockwerk war.

Insbesondere, wenn man weiß, dass es sehr wohl auch die Bilder gibt, in denen die Leute wirklich über dem Abgrund waren.

2 Responses

  1. Markus Geitebrügge sagt:

    Danke, dass es auch in diesem Jahr weitergeht. Habe die neue Folge (Lunch atop..) wieder gern und mit Begeisterung gehört.
    Danke für die Arbeit und die tolle Präsentation.

    • Dirk sagt:

      Natürlich geht es auch dieses Jahr weiter! 🙂
      Die Geschichten gehen mir so schnell nicht aus und meine Begeisterung für das Thema ist bisher auch ungebrochen…

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