====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====
Leticia Battaglia träumte davon zu schreiben, entdeckte aber mit beinahe 40 wie viel effektiver sie sich mit einer Kamera ausdrücken konnte. Sie wird zu einer Reporterin in Sizilien zu einer Zeit zu der die Mafia die Region fest im Griff hat und dokumentiert unerschrocken deren blutige Verbrechen.
- The Photographer Who Fought the Sicilian Mafia for Five Decades (Petapixel)
- Letizia Battaglia (Wikipedia)
- Sie schoss die Mafia (Süddeutsche Zeitung)
- Mit der Kamera gegen die Mafia (FAZ)
- Eine Liebesaffäre zwischen Frau und Kamera (Deutschlandfunk Kultur)
- Shooting the Mafia (IMDB)
Bild: Von Tato Grasso – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7123757
Transkript
Eigentlich wäre sie gerne Autorin geworden.
Ihre Eltern hatten für sie eine eher traditionelle Lebensweise vorgesehen.
Das sollte alles anders kommen, als sie mit beinahe 40 Jahren zum ersten Mal
entdeckte, dass eigentlich die Fotografie
das Medium war, über das sie sich am besten ausdrücken konnte.
Foto Menschen
Letizia wuchs bis zu ihrem achten Lebensjahr in Triest auf, obwohl sie
eigentlich in Palermo in Sizilien geboren worden war.
Ihre Eltern hatten aus beruflichen Gründen die Stadt gewechselt
und die kleine Letizia war ein freiheitsliebendes Kind, ein wenig
aufsässig vielleicht.
Als die Eltern beschließen wieder nach Palermo zurückzukehren, ändert sich ihr
Leben dramatisch, denn in Palermo herrscht zu der Zeit eine sehr
konservative Moral vor.
Und in Palermo der 40er Jahre lässt man Mädchen nicht alleine auf die Straße.
Die kleine Letizia wird in eine Klosterschule gesteckt und ansonsten
daheim im Wesentlichen eingesperrt.
Ein Zustand, den sie als unhaltbar empfindet.
Um daraus auszubrechen, gibt es nur ein Mittel.
Eine vorteilhafte Heirat.
Und genau diesen Weg schlägt Letizia mit gerade mal 16 Jahren ein.
Der Erbe einer regionalen Kaffee-Röster-Familie hatte sich in sie
verliebt und sie nutzte die Gelegenheit, um mit Hilfe einer Hochzeit aus dem
elterlichen Gefängnis auszubrechen.
Mit 17 ist sie dann zum ersten Mal schwanger und in schneller Folge bekommt
sie drei Mädchen.
Was allerdings auch schnell klar wird, ist, dass sie das eine Gefängnis gegen ein
anderes getauscht hat.
Denn in der traditionellen Gesellschaft von Palermo können Frauen nichts
entscheiden, auch nicht zum Beispiel ein Studium anzufangen.
Und so konzentriert sie sich auf ihre Kinder und ihre Familie und führt 17
Jahre lang eine überwiegend unglückliche Ehe.
Irgendwann wird es alles zu viel.
Sie hat einen Nervenzusammenbruch und die Ärzte raten ihr, ihr Leben von Grund
auf neu zu überdenken.
Sie verlässt ihren Mann, nimmt ihre Kinder mit und muss ab jetzt ohne den
Rückhalt einer wohlhabenden Familie für sich selbst sorgen und ihren eigenen
Unterhalt verdienen.
Seit Jugendjahren hatte sie den Traum, Journalistin oder Autorin zu werden.
Und so beginnt sie, ihre Dienste als Journalistin an verschiedene Zeitungen zu
verkaufen.
Eine der Zeitungen, der sie ihre Dienste anbot, war die linke Tageszeitung
Lora. Als sie anfragte, herrschte gerade akuter Personalmangel und man konnte
eigentlich alles brauchen.
Autoren, Fotografen, Büropersonal, am besten jemand, der oder die alles auf
einmal machen könnte.
Und Letizia war nicht besonders wählerisch und nahm deswegen eine Stelle als
Kulturkorrespondentin an.
Weil Fotos gebraucht wurden, griff sie schließlich zur Kamera und ihre ersten
Fotos waren schlecht.
Aber sie wurden besser bezahlt und gleichzeitig entdeckte sie, dass es ihr
leichter fiel, mit Fotos auszudrücken, was sie empfand, als mit Artikeln.
Ihr Aufstieg bei Lora ist erstaunlich schnell.
Drei Jahre nachdem sie bei Lora in Mailand als kleine Reporterin angefangen
hat, wird sie von der Zeitung als Leiterin der fotografischen Abteilung
zurück nach Palermo geschickt.
Sie ist frisch geschieden, hat einen 19 Jahre jüngeren Liebhaber und hat ihre
Liebe zum Fotosjournalismus entdeckt.
Italien allgemein, aber ganz besonders Sizilien, ist zu der Zeit fest in der
Hand von kriminellen Banden und Familienclans, der Cosa Nostra. Und in
Palermo brechen zu dieser Zeit blutige Mafia-Kriege um die Vorherrschaft
verschiedener Familien aus.
Letizia ist kaum in der Stadt angekommen, da sieht sie ihren ersten
Mafiamord. Unser Bild von der Mafia ist ja stark von Filmen geprägt.
Wir unterstellen der Mafia eine Art Kodex.
Sie sind ein Familienverband, der auf gegenseitiger Loyalität beruht.
Und wir haben natürlich Vorstellungen davon, mit welchen Geschäftsfeldern die
Mafia wohl ihr Geld verdient.
Drogenhandel, Prostitution, Glücksspiel, Schutzgelderpressung und all das stimmt.
Allerdings war die Mafia in den 70ern und 80ern und wahrscheinlich bis heute
auch in allen anderen Geschäftsfeldern aktiv, in denen man Geld verdienen konnte.
Sie betrieben illegale Schlachtereien genauso, wie sie den Umsatz mit
Textilien kontrollierten.
Alles von Bäckereien über Restaurantbetrieb bis hin zu
Friedhofsgärtnereien war fest in der Hand der Mafia.
80 Prozent aller selbstständigen Unternehmer in Sizilien zahlten
Schutzgeld oder anderweitige Abgaben an die Mafia.
Das Ganze hatte Ausmaße angenommen, dass die eigentlich stillschweigende
normale Bevölkerung anfing, sich gegen die Unterdrückung durch die
kriminellen Familien zu wehren.
Korrupte Politiker und Mafia-Funktionäre hatten einfach schon zu lange zu viel
Geld aus den Menschen herausgepresst.
Und so tauchten nach und nach einzelne Figuren auf, die es sich zur Aufgabe
gemacht hatten, die Mafia-Machenschaften aufzudecken und die Mafiosi,
die für die Straftaten verantwortlich waren, hinter Gitter zu bringen.
Und so wurde über die Jahre aus einem Kampf um die Vorherrschaft der Mafia
in bestimmten Regionen Siziliens auch noch ein Krieg gegen die Behörden und
öffentlichen Stellen, die sich nicht korrumpieren ließen.
Und Letizia Bataglia immer zwischendrin.
Anfang der 80er-Jahre kam es zu Hunderten von Mafia-Morden.
Und als lokale Reporterin ist sie immer vor Ort.
Manches Mal, so berichtet sie später, sogar mehr oder weniger durch Zufall.
Gerade eben in der Nachbarschaft gewesen,
plötzlich im Polizeifunk von einem Mord erfahren.
Und die Mafia hat nichts mit ehrenwerter Familie zu tun.
Sie machen nicht halt vor Kindern, Frauen, alten Menschen,
Leuten, die nur zufällig gerade Zeuge eines Verbrechens wurden.
Sie töten auf offener Straße mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Autobomben gehen genauso hoch, wie plötzliche Messerattacken stattfinden
oder Erschießungskommandos, die ihre Opfer auf offener Straße
manchmal am helllichten Tag hinrichten.
Letizias Fotografien machen die brutale Realität der Mafia-Clans unignorierbar.
Diese Bilder haben einfach nichts mit der Vorstellung,
die wir aus Hollywoodfilmen mitbekommen haben, zu tun.
Aber obwohl diese Aufnahmen Tatortfotos sind und Reportagefotos,
haben Letizias Fotos inzwischen auch noch einen hohen ästhetischen Wert.
Sie sind packend.
Sie zeigen eben nicht nur das Opfer,
sondern auch die Angehörigen, die Menschen, die die Opfer gefunden haben.
Sie zeigen eben auch, was die Mafia in der Bevölkerung anrichtet,
in der Gesellschaft.
Und Letizia beschränkt sich nicht darauf,
mit ihren Aufnahmen regelmäßig Titelseiten zu dekorieren,
sondern organisiert Ausstellungen.
Und nicht nur irgendwelche Ausstellungen,
die dann doch nur Fotofans entdecken würden.
Nein, sie fährt mit ihren Fotos in die Fußgängerzonen
der großen Mafia-Hochburgen und organisiert Pop-up-Ausstellungen.
So steht sie zum Beispiel eines Tages mitten in der Innenstadt von Corleone
und hat eine spontane Ausstellung organisiert
mit Bildern von Tatorten von Mafia-Anschlägen.
Sie gibt außerdem Interviews in der Lokalpresse
und erklärt, was sie mit diesen Bildern beabsichtigt.
Und sagt ganz offen, dass sie vor Angst kaum Luft bekommt.
Denn während sie diese Ausstellung macht,
weiß sie, dass um sie herum Mitglieder des lokalen Mafia-Clans sind.
Sie weiß, dass nicht nur normale Menschen ihre Bilder sehen,
sondern eben auch Täter, Auftraggeber.
Menschen, die bekannt dafür sind, dass sie auch mal Rache üben an anderen,
die ihnen in irgendeiner Form als problematisch erscheinen.
Trotzdem lässt sie sich nicht beirren.
Sie wird immer wieder bedroht.
Sie wird bespuckt.
Ihre Kamera wird ihr weggenommen und auf den Boden geworfen.
Aber zum Glück passiert ihr nichts Schlimmeres.
Ihre Bilder aber machen es unmöglich zu ignorieren,
was da vor aller Augen regelmäßig stattfindet.
Und es beginnt ein Umdenken in Politik und Öffentlichkeit.
1983 beginnt dann etwas, das man heute als Palermo Spring bezeichnet.
Eine Kerngruppe von unkomprimentierten Polizeibeamten,
Juristen und Anklägern macht sich zusammen
und beginnt, die Mafia-Strukturen aufzuklären
und ihre Mitglieder festzunehmen.
1986 kommt es zu einem spektakulären Verfahren,
bei dem über 450 Angeklagte nach und nach verurteilt werden.
Und auch die Öffentlichkeit begann, sich immer öfter gegen die Mafia zu stellen.
Letizia möchte Teil dieser Bewegung sein und möchte die Zukunft mitgestalten
und beginnt so in der lokalen Politik in Palermo aktiv mitzugestalten
und für eine Weile sogar im Stadtparlament zu kandidieren.
Es sah tatsächlich so aus, als würde man dem Mafia-Problem Schritt für Schritt Herr werden.
In ihrer offiziellen Position im Stadtparlament
ist Letizia für Plätze und historische Sehenswürdigkeiten zuständig
und beginnt damit, die Mafia auch aus dem öffentlichen Stadtbild herauszudrängen.
Derweil gehen die Anklagen und juristischen Verfahren weiter.
Ein Richter tut sich dabei besonders hervor.
Giovanni Falcone hatte mehr Mafia-Bosse hinter Gitter gebracht als jeder andere Jurist.
Seit Jahren kämpfte er nun schon gegen die Cosa Nostra
und es war ihm und seinem Umfeld klar, dass er auf deren Todeslisten ganz oben stand.
Trotzdem schien er unantastbar zu sein.
Jahrelang entging er Anschlag um Anschlag bis zum 24. Mai 1992.
Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.
Bei einem Bombenanschlag auf Sizilien ist eine der Schlüsselfiguren im Kampf gegen die Mafia,
Richter Giovanni Falcone, ums Leben gekommen.
Mehrere Begleitpersonen, darunter seine Frau, wurden ebenfalls getötet.
Das Fahrzeug des Richters und Begleitwagen der Leibwächter
wurden durch mehrere hundert Kilogramm Sprengstoff zerfetzt.
Der Sprengstoff war in einem Autobahntunnel nahe Palermo ferngezündet worden,
als die Kolonne vorbeifuhr.
Die Mafia nannte diese Anschläge auf hohe Würden Träger des Staates „Strategie der Massaker“.
Beamte, die ihren Machenschaften und ihren Funktionären gefährlich werden konnten,
sollten so in Angst sein, dass sie es nicht wagen würden,
Gesetze zu verschärfen oder der Mafia anderweitig zu Leibe zu rücken.
Also wenige Monate nach dem Anschlag auf Falcone,
ein seiner Weggefährten und Nachfolger, nämlich den Richter Paolo Borsellino,
zusammen mit einigen seiner Leibwächtern töteten, war das Maß allerdings voll.
Die Öffentlichkeit hatte endgültig genug.
Es kam zu derart wütenden Protesten, dass die Mafia sich gezwungen sah,
sich zurückzuziehen und sie tauchte in den Untergrund ab.
Es wurde nach und nach ruhig.
Natürlich gab es immer noch Auftragsmorde.
Natürlich gab es immer noch mächtige Mafia-Bosse.
Aber anders als in den offenen Klankriegen, die auf den Straßen Palermos
oder anderer sizilianischer Städte ausgeführt wurden,
sorgte man jetzt für eine gewisse Spurenlosigkeit.
Menschen verschwanden einfach.
Die Tage, an denen mit Bombenattentaten oder Maschinengewehrfeuer
auf offener Straße Politiker ermordet wurden, waren anscheinend erst mal vorbei.
Letizia lässt aber keinen Zweifel daran, dass das Problem nach wie vor existiert
und nach wie vor genauso omnipräsent ist wie zu der Zeit, zu der sie über 600.000
Fotografien der Gewalttaten und der Menschen, die von der Mafia betroffen waren, gemacht hatte.
Und es sind ihre Bilder und die Ausstellungen, die sie organisiert und die Projekte,
die sie vorantreiben, die gleichermaßen dafür sorgen, dass ihre Heimat sich von der Mafia
frei macht und gleichzeitig dem Vergessen entgegenwirken.
Und die Bilder sind beeindruckend, nicht nur als Zeitzeugnisse,
sondern auch wegen der bemerkenswerten Bildsprache und dem Gespür für den richtigen Moment.
Alle ihre Bilder sind schwarz-weiß, alle ihre Bilder halten Momente fest,
die wir in unserem Alltag zum Glück nicht sehen müssen.
Gefragt, welche Situationen sie denn als die gefährlichsten in Erinnerung behalten hat,
sagt sie, die Mafia-Beerdigung.
Es waren diese Beerdigungen, bei denen alle Beteiligten wussten, wer sie war
und sie absolut unerwünscht war.
Gleichzeitig war sie bei solchen Gelegenheiten zu sichtbar, zu öffentlich.
Aber jedes Mal, wenn sie den Auslöser drückte, bei jedem Foto, das sie von den trauernden
Mafia-Familienangehörigen machte, war ihr klar, dass sie sich selbst in tödliche Gefahr begab.
Trotzdem ist alles gut gegangen.
Sie stirbt am 13. April 2022 nicht durch die Hand eines Mafia-Killers oder durch eine Autobombe,
sondern in Folgen von Krebs.
Ihre Bilder leben weiter, ihr Leben inspirierte Tausende.
Und eine ihrer Töchter ist in ihre Fußstapfen getreten und ist inzwischen selbst eine bekannte Fotojournalistin.
Letizia Pataglia hatte eine Mission.
Sie hatte einen Grund, warum sie fotografierte.
Und dieser Grund gab ihr dann auch eine fotografische Stimme.
Noch zu Lebzeiten wurde sie vielfach geehrt und es ist ihre Furchtlosigkeit, die Tausende
von Menschen inspirierte und viele in ihre Fußstapfen treten ließ.
Wer mehr über Letizia Pataglias Fotografie und ihr Leben erfahren möchte, wird wie immer
in den Notizen zur Sendung fündig.
Einfach auf fotomenschen.net vorbeisurfen.
Und wer dann da schon mal ist, ich freue mich immer über Kommentare, Feedback, Themenwünsche.
Apropos Themenwünsche.
Diese Folge hat einen Themenpaten, nämlich Jürgen Libertus, der angesichts von Letizia
Pataglias Tod einen Mail an mich geschrieben hat und mich darauf hingewiesen hat, dass
diese Geschichte doch wirklich auch einmal erzählt werden müsste.
Lieben Dank für den Themenvorschlag und lieben Dank an alle fürs Zuhören.
Passt auf euch auf und bis bald.
Herzlichen Dank für den tollen Podcast!
Beim Hören viel mir gleich wieder ein weshalb mir diese ausgewöhnliche Fotografin und Kämpferin für die Gerechtigkeit und Menschenwürde bekannt vor kam.
ich meine im TV( Arte, 3Sat vielleicht ) mal eine Doku über sie gesehen zu haben.
sehr interessant und bewegend erzählt.
ich höre deinen Podcast sehr gerne, auch die anderen folgen finde ich sehr interessant und gut.
Sie geben mir immer ein klein wenig mehr Licht in unsere Welt und ich freue erfreue mich daran das es Menschen gibt, die ihre Ideen und Visionen mit uns teilen.
Danke!
Hallo Herr Primbs,
vielleicht noch eine kleine Ergänzung zu dieser Podcast-Folge: Letizia Battaglia – spricht sich übrigens „Battalja“ aus 😉 – hat auch einen Gastauftritt in „Shooting Palermo“ von Wim Wenders, in dem sie den Fotografen-Protagonisten Finn (gespielt von Campino, der mich hier sehr positiv überrascht hat) auf seine „bella macchina fotografica“ anspricht. Und noch ein Tipp: in Italien nie einer Person sagen, sie hätte eine „bella camera“ – das wäre ein schönes Schlafzimmer…
Herzliche Grüße
W. Harst