9. Oktober 2021

Arbeitende Kinder

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Lewis W. Hine fotografierte über Jahrzehnte hinweg Kinderarbeit in den USA und gehört zu den wenigen Fotografen die wahrscheinlich durch ihre Fotografien Gesetzgeber zum Handeln brachten.


Tranksript

Als die Industrialisierung in Ländern wie den USA ankam, brauchte sie vor allen Dingen eins: billige Arbeitskräfte. Und die billigsten Arbeitskräfte, das sind die Kinder armer Familien. Sie sind billig, sie sind schnell, sie trauen sich nicht, zu streiken und es gibt viele. Kein Wunder, dass die Land auf, Land ab im Einsatz sind. Sie sind Minenarbeiter, Fabrikarbeiter, helfen bei Ernten, laufen als Botenjunge und Zeitungskinder durch die Straßen.

Und die Menschen, die nicht zu den Armen gehören, schauen sich das an und finden nichts dabei, denn sie wissen ja nichts über die Bedingungen, bei denen diese Kinder arbeiten. Ein Zustand, der sich dank der Fotografien eines bemerkenswerten Mannes ändern sollte: Lewis Wickes Hine.

Ich habe so einige Stunden diese Woche damit zugebracht, mich durch Lewis Hines Bilder zu blättern. Es gibt vom Taschenverlag ein Buch, in dem sein Gesamtwerk abgebildet ist. Geboren wird er im Jahr 1874 in Wisconsin. Als sein Vater stirbt, als er gerade mal 16 war, wird es notwendig, dass er zum Familieneinkommen beiträgt, und so fängt Lewis zu Arbeiten an. Ob da vielleicht sogar schon ein Grundstein für sein späteres Werk gelegt wird, kann man nur spekulieren, aber in jedem Fall weiß man, dass Lewis von Anfang an viel mit der arbeitenden Bevölkerung zu tun hatte, mit Menschen, die nicht immer gut gestellt waren.

Es ist das Jahr 1900, als er ein Pädagogikstudium in Chicago beginnt und wenige Jahre später an der Ethical Culture School in New York eine Anstellung als Lehrkraft antritt. Hier findet Lewis Hine auch zur Fotografie, damals noch im Kollodium-Nassplatten-Verfahren, und beginnt irgendwann schließlich auch Fotokurse zu geben.

An seiner Schule sind viele Einwanderer eingeschrieben, hauptsächlich osteuropäischer oder jüdischer Abstammung. Ein Großteil der Einwanderer in der damaligen Zeit kommen durch New York. Und alle mussten Station auf Ellis Island machen, einer kleinen Insel im Hudson River, auf dem die Einwanderungsbehörden der USA sämtliche Formalitäten erledigen. Alle Migranten, die zu der Zeit von der Seite in die USA einreisen, müssen durch diese Insel.

Und Lewis beschließt, daraus ein Fotoprojekt zu machen. Es entstehen die ersten eindrücklichen Aufnahmen von Einwanderern, Menschen, die sich den Formalitäten unterwerfen, die dort Treppen hochsteigen und in Warteräumen sitzen.

Das, was Lewis Hine schon damals macht, hat heute einen Namen, nämlich Sozialreportage, aber zu der Zeit gab es das kaum. Niemand machte sich die Mühe, Menschen dabei zu fotografieren, wie sie ihrem Alltag nachgingen. Und schon gar nicht, wenn diese Menschen im Grunde benachteiligte, oft arme Leute aus anderen Ländern sind. Lewis spricht auch mit seinen Fotomotiven, er macht Notizen. Und so wissen wir oft nicht nur, welche Szene eine Aufnahme zeigt, sondern haben auch Details zu einzelnen der Menschen, die darauf abgebildet sind. Name, Alter, woher sie kommen, was sie machen.

Je mehr Lewis fotografiert, desto mehr beginnt er auch, sich für die theoretische Seite seiner Leidenschaft zu interessieren. Er fängt an, Artikel in Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Das Themenspektrum ist weit: Mal geht es um die Wirkung von Fotografien, mal schreibt er über die pädagogischen Ideen in seiner Arbeit. Und dann wieder äußert er sich zu den sozialen Bedingungen, die er antrifft.

Es ist diese Zeit, in der er auch den Soziologen Paul Kellogg kennenlernt. Er ist Herausgeber der Zeitschrift namens „The Survey“ und Lewis Hine wird in den folgenden 30 Jahren Bilder in diesem Magazin veröffentlichen. Zu der Zeit, als die zwei Männer sich kennenlernen, arbeitet Kellogg gerade an einer Studie, in der er sich mit den Zuständen in der aufstrebenden Industriestadt Pittsburgh beschäftigt und Lewis Hine soll die Fotografien zu diesem Projekt beisteuern. Kellogg geht es darum, die wirtschaftlichen Faktoren mit der Politik seiner Zeit durch Reportageelemente zu verbinden und da sind natürlich Fotografien einzigartig mächtig.

Hine fährt also durch die Industrieanlagen Pittsburghs und macht Fotos von den Arbeitern und ihren Familien und wer zu der Zeit in Fabriken fotografiert, konnte gar nicht anders, als auch Kinder beim Arbeiten zu sehen. Und auch die fotografiert Hine.

Jetzt ist es nicht so, dass Hine als erster Kinderarbeit entdeckt hat. Tatsächlich hat zu der Zeit die USA ein immer deutlicher werdendes Kinderarbeitsproblem. Im Jahr 1910 sind über 2 Millionen Kinder unter 15 Jahren nicht in der Schule, sondern im Beruf. Die Arbeiten sind oft anstrengend und nicht selten auch gefährlich und so kommt es auch immer wieder auch zu bedauerlichen Unfällen. Es gibt kaum eine Gesetzeslage, die die Kinder schützen würde. Und es gibt nur wenige, die für diesen Schutz kämpfen.

Es ist dieses Klima, in dem das National Child Labor Committee gegründet wird, eine Non-Profit-Organisation, die sich für entsprechende Gesetzgebung einsetzen will und die Macht der Bilder erkennt. Hine hat sich zu der Zeit bereits einen Namen mit seinen Fotografien für die Studie und seinem Projekt auf Ellis Island gemacht und so beschließt das NCLC, einen offiziellen Fotografen anzustellen und wendet sich an ihn. Er sagt zu und die nächsten Jahrzehnte wird Hine kreuz und quer durch die USA reisen und Kinder fotografieren. Und diese Bilder werden in „The Survey“, in Publikationen der NCLC oder auch in Vorträgen und anderen Publikationen von Lewis Hine selbst veröffentlicht.

Nach und nach greifen auch immer öfter Zeitungen auf Bilder von Lewis Hine zurück. Und als US-Politiker anfangen, erste Gesetzesinitiativen auf den Weg zu bringen, sind es die Bilder von Lewis Hine, die letztlich den Ausschlag geben. Er hat ganze Serien von Aufnahmen, wo kleine Kinder, manchmal nur vier oder fünf Jahre alt, an gigantischen Maschinen arbeiten, wo Kinder zwischen sieben und zwölf in Minen arbeiten, Bilder von Kindern, die ihre Hände in Maschinen gebracht haben und seitdem invalide sind, Fotografien von Zeitungsjungen, die von drei Uhr Nachts bis Abends um elf Zeitungen verkaufen und dafür zehn Cent am Tag verdienen.

Und Lewis hat nicht nur diese Bilder, er hat auch immer ein paar Zeilen dazu. Er weiß, wer auf dem Bild ist. Lewis schreibt auf, welches Alter die Kinder angeben und welches Alter er schätzt. Inzwischen weiß er, auf welcher Höhe ungefähr jeder Knopf auf seinem Mantel ist und er kann durch Abzählen der Knöpfe grob schätzen, wie groß die Kinder sind und eine grobe Altersangabe machen.

In manchen Fabriken ist er natürlich nicht willkommen. Die Vorarbeiter sehen es nicht gerne, dass ein Fotograf auftaucht. Und so findet er alle möglichen Wege, um sich seine Fotos zu besorgen. Manchmal gibt er sich als Vertreter für Bibeln aus und sagt, er hat eine Kamera dabei, damit er seine Kundinnen und Kunden beim Bibellesen fotografieren kann, besonders Kinder mit Bibeln wären ihm sehr recht. Oder er stellt sich mit seiner Kamera einfach vor die Fabrik und fotografiert die Kinder beim Kommen und Gehen.

Lewis Hine macht tausende solcher Aufnahmen. Aber das berühmteste seiner Bilder zeigt die kleine Sadie Pfeifer. Sie ist eines von vielen kleinen Kindern, die in einer Baumwollspinnerei die Maschinen bedienen.

Was ich sehr interessant fand, war, beim Durchblättern von Lewis Hines Werk, dass er anders als seine Zeitgenossen zu fotografieren schien. Seine Bilder haben meistens einen sehr präzisen Bildaufbau. Ich schätze, daran erkennt man unter anderem auch den Fotolehrer. Aber der Bildaufbau bei Lewis Hine ist im Grunde immer der Gleiche. Je nach Bildmotiv sind zum Beispiel Kinder auf der rechten Seite vor einer an ihm vorbeilaufenden großen Maschine abgebildet, immer ungefähr in derselben Position. Oder kleine Kinder stehen in der Mitte der Aufnahme und schauen direkt in die Kamera, die Kamera ganz offensichtlich leicht unterhalb ihrer Augenlinie, sodass man nach oben schauen muss. Lewis begibt sich grob auf Augenhöhe seiner fotografierten Kinder und dadurch werden die Betrachterinnen und Betrachter dazu gezwungen, sich mit dem Motiv zu identifizieren. Außerdem arbeitet Lewis Hine mit selektiver Schärfe. Die Schärfe liegt präzise auf dem Kind.

Der Hintergrund und der Vordergrund verschwimmen in aller Regel leicht in der Unschärfe. Man sieht eine gewaltige Maschine mit einem Streifen Schärfe dran und ein arbeitendes oder Pause machendes Kind. So lassen sich diese Aufnahmen kombinieren, nebeneinander stellen, es ist eine schier endlose Aneinanderreihung von Bildern, die den industriellen Komplex in den USA noch mächtiger aussehen lassen.

Und seine Bilder beeindrucken. Es gibt ja ungefähr zu der Zeit noch einen anderen großen sozialen Fotografien, nämlich Jacob Riis. Die beiden Männer kannten sich sogar. Während Jacob sich mit den Lebensbedingungen der Menschen in New York und in den USA allgemein beschäftigte, ging es Lewis in erster Linie um die Arbeitsbedingungen. Und seine Arbeit zeigt Wirkung. Nach und nach werden entsprechende Forderungen aufgestellt und Gesetzesentwürfe veröffentlicht. Riis ist zu der Zeit der Chef der NCLC Ausstellungsabteilung und macht bis zu elf Fotoausstellungen im Jahr. Und die Ausstellungen touren zum Teil bis zu 60 Städte.

Im Jahr 1912 gründet die US-Regierung das US Children’s Bureau, 1916 bis 1918 werden dann endlich Gesetze verabschiedet, die Kinder schützen sollen. Allerdings greifen diese Gesetze in die Autonomie der US-Bundesstaaten ein und so kommt es schnell zu Klagen, woraufhin das oberste Gericht der USA diese Gesetze zunächst wieder annulliert.

Ultimativ dauert es bis in die 30er, bis die USA ordentliche Kinderschutzgesetze verabschieden. Und der Hintergrund ist damals auch ein zynischer: Die Weltwirtschaftskrise schlägt zu. Und die ersten, die durch die Weltwirtschaftskrise ihre Arbeit verlieren und nicht mehr gebraucht werden, sind die Kinder der Armen, dicht gefolgt von den Armen selbst. Und in einer Wirtschaft, in der es sowieso nicht genügend Arbeit gibt, um alle zu beschäftigen, ja, da hat sich das mit der Kinderarbeit auch erstmal erledigt. Und dieser Moment wird dann vom Gesetzgeber auch genutzt. Als die Weltwirtschaftskrise vorbei ist, gibt es in den USA ordentliche Kinderschutzgesetze, auch auf Bundesebene.

Und Lewis Hine kann von sich behaupten, einen nicht unwesentlichen Anteil an dieser gesamten Bewegung gehabt zu haben. Und das galt natürlich insbesondere deswegen, weil Lewis Hine einen fotografischen Stil und ein Thema gewählt hatte, das so noch nie dagewesen war und die Menschen aufrüttelte. Eltern sahen Kindern in die Augen, die unter entsetzlichen Bedingungen schuften mussten und da war es einfach sehr klar, dass eine Schule ein besserer Ort für ein Kind ist. Die so bebilderten Kampagnen rannten dann offene Türen ein.

Und so blieb es auch bei Lewis Hine nicht bei den Bildern von Kinderarbeitern, nach mehreren Jahren Fotografie mit sozialem Auftrag fand er ein neues Schaffensfeld: Er wurde vom Roten Kreuz angestellt und nach Europa geschickt. Dort fotografierte er die Bemühungen des Roten Kreuzes, also zum Beispiel in Kriegslazaretten. Und auch hier richtet er seine Kamera auf den Alltag und auf die einfachen Leute, Krankenschwestern, Veteranen, die Familien der verletzten Soldaten, die Kriegsweisen.

Und was man hier auch nach und nach sieht, ist, dass Hine seinen Blickwinkel verändert. Aus Fotografien, die auf soziale Missstände hinweisen, werden Bilder der Arbeiterklasse.

Als er dann in die USA zurückkehrt, ist das sein Haupttätigkeitsfeld. Wieder reist er durch die USA und wieder fotografiert er hauptsächlich die einfachen Menschen, aber jetzt die Arbeiter und jetzt auch oft mit einem deutlich positiverem Blick. Seine Bilder werden regelmäßig in Firmenzeitungen abgedruckt oder für Werbekampagnen gekauft. Und irgendwann bekommt er den Auftrag, das im Bau befindliche Empire State Building als offizieller Baustellenfotograf zu begleiten.

Und hier bringt er alles zusammen, was er in den Jahrzehnten zuvor an Kenntnissen zusammengetragen hatte. Er ist an den Arbeitern interessiert. Im Stil sehen die Bilder sehr vertraut aus. Ich hab ähnliches von Margaret Bourke-White gesehen, oder auch Bilder wie „Lunch atop a Skyscraper“, wo ein Stahlträger mit darauf sitzenden Arbeitern abgebildet ist, sehen sehr ähnlich aus wie Aufnahmen, die Lewis Hine hinterlassen hat. Männer, die auf Stahlträgern in schwindelnder Höhe balancieren. In diesen Aufnahmen gibt es keine Missstände anzuprangern. Hine nutzt seine Ästhetik, um den einfachen Mann bei der Arbeit zu feiern. Und diesem Thema bleibt er dann auch bis zum Ende seines Lebens treu.

Nach dem Empire State Building gibt es jetzt keine großen Aufträge mehr, aber Hein fotografiert bis zu seinem Lebensende weiter, meistens Portraits. Und weil er nicht besonders geschäftstüchtig ist, geht ihm nach und nach auch das Geld aus. Als seine Frau stirbt, ist er fast mittellos, zieht bei seinen Kindern ein und beschäftigt sich bis zu seinem Tod mit Schreiben und Fotografieren. Und geriet dann erstmal in Vergessenheit.

So richtig berühmt war er sowieso nie geworden. Seine Arbeit war immer im Schatten anderer Frontfiguren gestanden und so dauert es fast bis in die 70er, bis eine groß angelegte Ausstellung sein Werk nochmal der Öffentlichkeit vorstellt und damit sehr deutlich macht, wie viel Einfluss seine Arbeit auf die Bildarbeit der damaligen Zeit hatte. Die Fotografinnen und Fotografen, die parallel zu ihm oder kurz nach ihm kamen, kannten seine Fotografien ja sehr wohl. Seine Bilder waren Inspirationsquelle, seine Essays waren gelesen worden und so erkennt man seinen Einfluss bis heute. Und bis heute gibt es auch Fotografinnen und Fotografen, die sich mit denselben Themen beschäftigen. Da gibt es Bildbände, in denen einfache Arbeiter portraitiert werden und es gibt Bücher, die sich mit Kinderarbeit beschäftigen.

Wir haben jetzt gerade, während ich aufnehme, das Jahr 2021 und laut der UNICEF ist dieses Jahr zum ersten Mal wieder mal ein Jahr, in dem die Kinderarbeit global zugenommen hat. 160 Millionen Kinder unter 14 Jahren arbeiten weltweit unter Bedingungen, unter denen Kinder nicht arbeiten sollten. Und damals wie heute gibt es Menschen, die darauf aufmerksam machen und versuchen, mit Fotografien aufzurütteln. Leider ist unsere Welt viel, viel zynischer geworden und deswegen reicht schon lang keine fotografische Arbeit mehr aus, um Regierungen zum Handeln zu bewegen. Was aber nicht heißt, dass es das nicht weiterhin wert ist. Lewis Hine hätte gesagt, es ist es immer wert, dem Menschen zu zeigen, was sonst viel zu einfach wegzuignorieren ist. Und ich finde: Da hat er Recht.

3 Responses

  1. Petrina sagt:

    Wow, mal wieder eine tolle Folge, die auch ein Licht darauf wirft, dass Kinderarbeit vor gar nicht sooo langer Zeit in den USA gang und gäbe war. Ein kleines Missverständnis würde ich aber gern aufklären: Es ist ein weit verbreiteter Irrglaube, dass alle Einwanderer*innen durch Ellis Island mussten. Die Schiffe aus Europa legten nicht dort, sondern in Manhattan an, und die Reisenden der 1. und 2. Klasse durften nach einer kurzen Überprüfung an Bord direkt ins Land (es sei denn, sie machten den Eindruck, sie könnten krank sein, oder es waren rechtliche Probleme bekannt). Nur die ärmeren Leute wurden hingegen grundsätzlich zu einer genauen Überprüfung mit der Fähre nach Ellis Island gebracht.

    • Dirk sagt:

      Spannend & Vielen Dank für die Ergänzung und Richtigstellung! War mir wirklich nicht klar und auch der Essay in meinem Lewis Hine Buch war da mehrdeutig.

  2. Ulrike sagt:

    Danke, wieder ein tolles Thema herausgesucht und gut aufbereitet, dass man weiterstöbern möchte durch Deine Links!

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