15. November 2020

Das Bild im Auge des Mordopfers

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Die Fotografie machte im 19. Jahrhundert zuvor unsichtbares sichtbar und hielt fest was man verloren glaubte. War es da nicht auch vorstellbar, Verbrechen anhand der letzten „Aufnahme“ ihrer Augen aufklären zu können?

[Hollander murder case, Photograph of Theresa Hollander]
Theresa Hollander

Bildquelle: By Wilhelm Friedrich Kühne (March 28, 1837 – June 10, 1900) – The College of Optometrists, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=25926283

Soundquelle: soundsnap.com


Transkript

Unsere Folge beginnt mit einem Mordfall, in Chicago. Es ist ein kalter und winterlicher Februar Abend, als die 20 jährige Teresa Hollaender sich auf den Heimweg macht. Zusammen mit einem Freund und einer Freundin nimmt sie erst die Straßenbahn und geht dann ein kurzes Stück über den Friedhof Richtung Elternhaus. Es ist dunkel und kalt und deswegen ist da zu der Zeit auch wirklich niemand unterwegs. Deswegen gibt es für die nachfolgenden Geschehnisse auch keine Zeugen. Als ihre Eltern anfangen, sich Sorgen zu machen, macht sich der Vater auf den Weg, nach seiner Tochter zu suchen und geht den Weg ab, den sie normalerweise einschlagen würde. Und natürlich findet er sie auch mit einem Holzknüppel zu Tode geprügelt. Außer ihre Leiche und dem Knüppel gibt es aber keine weiteren Zeugen, weil Teresa mit weit aufgerissenen Augen gefunden worden war. Macht der ortsansässige Augenoptiker einen ungewöhnlich klingenden Vorschlag? Es gäbe nämlich die Theorie, so teilt er den Behörden mit, dass sich der letzte Blick im Augenblick des Todes praktisch einbrennt und man mit fotografischen Verfahren dieses Bild wieder zum Vorschein bringen konnte. Im Falle von Teresa war man sich ziemlich sicher, dass die vermutlich als letztes ihren Mörder gesehen haben musste. Und deswegen genehmigte die Staatsanwaltschaft in diesem Fall, das Auge des Opfers zu öffnen und eine Aufnahme anzufertigen, in der Hoffnung darauf, Hinweise auf den Mörder finden zu können.

Ein Bild wird gemacht. Und als es zu ersten Festnahmen und dann einem Prozessauftakt kommt, wird viel über dieses Bild gemunkelt. Man hätte den Mörder da drinnen gesehen oder doch zumindest genügend Hinweise, um den Angeklagten mit vier befreundeten Anthony Patras verurteilen zu können. Naja, kam dann doch anders. Anthony Petras wird nicht nur einmal, sondern gleich zweimal angeklagt und beide Male freigesprochen. Als dann später ähnliche Morde geschehen, für die dann Petras auch noch ein Alibi hatte, war der Verdacht dann endgültig ausgeräumt. Und das Foto, das wirklich gemacht worden war, zeigte leider überhaupt gar nichts Verwertbares. Aber es zeigte etwas und das ist jetzt vielleicht die Stelle, an der ich eins aufklären muss. Es ist tatsächlich wissenschaftliche Erkenntnis, dass unsere Augen, da sie ja chemisch funktionieren, Bilder festhalten. Und jawohl, man kann diese Bilder fotografisch fixieren. Und im Jahr 1914, als Teresa erschlagen worden war, da war das tatsächlich schon ein relativ alter Hut. Die Geschichte der sogenannten Orthographie, so nennt man diese Disziplin nämlich, beginnt im Jahr 1878 mit dem deutschen Forscher Wilhelm Friedrich Kühne. Der forscht in Heidelberg und war Physiologe und Enzym Forscher, und in der Eigenschaft begann er 1877, sich mit der chemischen Beschaffenheit der Retina auseinanderzusetzen.

Ein Jahr zuvor hatte, ein Physiologe namens Franz Boll, die These aufgestellt, dass es ein Sehpigment gäbe, das unter Einfluss von Licht verblassen würde. Und das, so meinte Boll, geht eigentlich nur bei lebendigen Organismen, und sobald der Tod eintritt, kommt dieser Prozess zum Erliegen. Mit dieser Frage beschäftigte sich jedenfalls Wilhelm Kühne und experimentierte zu dem Zweck mit entnommenen Retinas. Und da tauchte natürlich die Frage auf, ob sich der Ablauf bei lebendigem Gewebe und totem Gewebe unterscheiden würde. Und zu diesem Zweck untersuchte Wilhelm Friedrich Kühne Hasen. Er fixierte Versuchstiere, sodass die gezwungen waren, ein Fenster in seinem Labor anzusehen, bevor er sie tötete und die Retina untersuchte, und stellte dabei dann fest, dass sich tatsächlich das Bild dieses Fensters in der Netzhaut eingebrannt hatte. Konkret ist es so, dass Sehpurpur unter Lichteinfall zerfällt und dann eine gewisse Zeit braucht, um sich wieder aufzubauen. Wie gesagt, dem Mann ging es eigentlich nicht wirklich ums Fotografieren oder um das Festhalten von Bildern in toten Augen. Er hat sich mit dem Mechanismus des Sehens an sich befasst, aber die Phantasie der Menschen war natürlich sofort grenzenlos angeregt. Denn seine Erkenntnisse demonstriert er unter anderem eben mit Aufnahmen dieser Hasen Retinas, in denen man die Fenster Muster sehen konnte. Wilhelm Kühne zog thematisch weiter. Der Verdauungstrakt und Diabetes waren Themen, mit denen er sich weiter beschäftigte. Aber mit seinen Erkenntnissen in der Welt dauert es natürlich nicht lange, bis die ersten die Frage stellten, ob man nicht in den Augen von Toten die Bilder ihrer Mörder sehen konnte.

Wilhelm sah das skeptisch und der Hauptgrund für seine Skepsis war die Belichtungszeit, die es brauchte. Klar hat der Sehpurpur praktisch so eine nach Regenerationszeit und jawohl, man kann das nutzen, um ein Bild sozusagen zu fixieren. Aber man müsste seinen Mörder schon erstaunlich lange erstaunlich ruhig anschauen. Der müsste auch so ein bisschen ruhig halten, um ein Bild von ihm auf der Netzhaut festhalten zu können. Und dann müsste das Auge idealerweise in weniger Minuten entnommen und untersucht werden. Denn der Effekt hält eben auch nicht lange an. Aber es gab eine Menge Unwissen. Denn die Frage, wie lange denn ein Bild im Auge des Menschen erhalten bleibt und ob man denn nun das letzte Bild wirklich sehen könne, kann man ja nicht mal eben so beantworten. Man kann ja nicht wild irgendwelche Leute umbringen, um in die Augen zu entnehmen und zu untersuchen. Außer man sucht sich einen zum Tode Verurteilten. Das ist der nächste Stopp unserer heutigen Folge. Der 16. November 1880. Da wird nämlich der 31 jährige wegen Kindsmord verurteilte Ehrhard Gustav Reif zur Guillotine geführt. Seine Hinrichtung ist ein wissenschaftliches Experiment. Er soll nämlich nicht nur für seine Tat büßen, sondern die Behörden haben genehmigt, dass sein Auge eben genau auf die Frage hin, was die Retina im Augenblick des Todes denn nun wirklich festgehalten hatte, untersucht werden darf und was man damals erkennt, ist, das Bild ist wenig brauchbar. Der Eindruck auf der Netzhaut hält ungefähr 5 Minuten. Es ist sehr schwer zu fotografieren und zu fixieren und im Allgemeinen auch nicht identifizierbar, einfach zu verwaschen. Man sieht aber zweifelsfrei, dass etwas da ist.

Jetzt leben wir ja in einer Zeit, in der es dramatische Erkenntnis, Gewinne und Entwicklungen gab. Die Industrialisierung brachte praktisch jeden Tag ein neues Wunder und deswegen wurde man von solchen Erkenntnissen auch nicht entmutigt. Die Forensiker bei den verschiedenen Polizeibehörden, die rieben sich schon die Hände, denn man hatte die Hoffnung, dass es irgendwann vielleicht ja dann Mittel und Wege geben könnte, wie man den einen oder anderen Mord mit einem gezielten Foto aufklären könnte.
Und so fängt man, so wird zumindest überliefert, auch während den Ermittlungen im Jack the Ripper Fall an, die Augen einzelner Mordopfer fotografisch festzuhalten. Wie wir wissen, hat auch das nicht viel gebracht. Was diese Beispiele allerdings zeigen, ist, dass das Verfahren an sich für möglich gehalten wurde. Theresa und Jack the Ripper sind nur prominente Beispiele für eine ganze Reihe von Fällen, in denen man versucht hat, Hinweise über solche Aufnahmen zu bekommen. Und das Ganze ist natürlich auch verständlich, denn es ist ja wirklich schwer auseinanderzuhalten, was jetzt gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis und was vielleicht dann doch nur Wunschdenken ist. Das hindert aber weder die Presse noch die Kriminalistik, noch die phantastische Literatur der damaligen Zeit wild mit der Idee zu spielen. Tatsächlich ist die Idee auch heute immer wieder in Filmen und Büchern zu sehen. Was seinerzeit Jules Verne begann, setzt heute Doctor Who fort, heute freilich mit gesicherter Erkenntnis. 1975 wird nämlich der Augenarzt Evangelos Alexandre des an der Heidelberger Universität Augenklinik vom Kriminologen gebeten, das Ganze doch nochmal systematisch und konkret zu untersuchen. Er entwickelt dann auch ein Verfahren, wie man Bilder der Iris tatsächlich fixieren kann. Man sieht also was. Und jawohl! Das hängt von dem ab, was wir vor unserem Auge wahrgenommen haben. Allerdings tritt er auch gleichzeitig den Beweis an, dass das nie dafür taugen wird. Forensische Untersuchungen durchzuführen. Damit nehme ich irgendetwas wirklich ausreichend sichtbar wird, muss es Kontraststark, möglichst hell und möglichst über einen längeren Zeitraum bewegungsunfähig sein. Dann kann man das freilich fixieren und sich angucken und wiedererkennen. Aber für Mordfälle oder eigentlich jede Art der praktischen Anwendung ist das Verfahren der Optographie leider oder Gott sei Dank völlig ungeeignet.

2 Responses

  1. minilancelot sagt:

    Hallo Dirk,

    bei der Überschrift bin ich erstmal zusammengezuckt, weiß ich da etwas nicht als Optikerin? Aber am Ende war ich doch etwas beruhigt, dass das doch nicht so ganz funktioniert. Du kannst Dir ja denken, daß ich da mit voller Konzentration bei dieser Folge war. Ganz lieben Dank für diesen interessanten Beitrag und natürlich habe ich wie immer etwas dazu gelernt…

    Viele Grüße
    minilancelot

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