====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====
Das erste von einer Handykamera stammende Bild wurde auf einer Entbindungsstation aufgenommen…
- Der Vater des Foto-Handys (Spiegel)
- Die Geschichte der Digitalkamera
- The first camera phone was sold 20 years ago, and it’s not what you might expect
- From J-Phone to Lumia 1020: A complete history of the camera phone
- Casio QV-10
- Casio QV-10, the first consumer LCD digital camera, lauded as ‚essential‘ to tech history
- Time – The Most Influential Images of All Time: 100 Photographs
- Philippe Kahn (Englisch, Wikipedia)
- Happy Birthday, camera phone, your papa is proud of you! (IEEE)
(Unter dieser Zeile müsste ein Video sein. Wenn nicht, dann auf nach https://fotomenschen.net)
Bild: By Philippe Kahn – Released to public domain as noted here, which states, „All images released to the public domain.“, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15288272
Transkript
Mein erstes Handy war ein Telefon von Motorola und das konnte genau ein Ding, nämlich telefonieren, und das noch nicht mal besonders gut. Damit konnte man nicht im Internet surfen, man konnte damit nicht navigieren und fotografieren schon gar nicht. Und damals, im Jahr 1995, vermisste das auch noch niemand.
Damals fotografierte man mit Filmkameras. Der Höhepunkt der Filmfotografie war noch nicht erreicht. Das wurde erst im Jahr 2000 passieren und das, was heute das Internet nennen, war gerade mal zwei, vielleicht drei Jahre alt. Es gab noch kein Google. Es gab noch kein Facebook. Wir hatten ja nichts damals. Entschuldigung.
Und ich verbrachte zu der Zeit jede freie Minute an meinem Computer, um mir selber Programmieren beizubringen. Und zwar mit der Programmiersprache Turbo Pascal der Firma Borland. Die Programmiersprache Turbo Pascal war für die Entwicklung der modernen Programmiersprachen super einflussreich aber eigentlich hat es mit der Geschichte heute nur am Rande zu tun.
Ich erwähne das hauptsächlich aus zwei Gründen: Zum einen wurde die Firma Borland 1982 von Philippe Kahn gegründet und der wird jetzt gleich sehr, sehr wichtig werden. Zum anderen will ich einfach nur unterstreichen, dass ich erstens ein alter Sack und zweitens ein totaler Nerd bin. Ich sympathisiere also mit Philippe Kahn, er wäre zu der Zeit damals einer meiner Helden gewesen. Ich hätte gewusst, wer der Mann ist. Ich hätte gewusst: Philip Khan ist der Typ, der Borland gegründet hat und dann die Firma Starfish Software und dann LightSurf und dann Fullpower Technologies.
Im Grunde war Philippe Kahn ein Vollblutnerd, der verstanden hatte, wie man technologische Entwicklungen zu Geld macht. Und er war ein Bastler, das, obwohl er im Jahr 1997 unsere Geschichte jetzt einsteigt, sein zweites Multimillionen-Dollar-Unternehmen gegründet hatte.
Es ist der 11. Juni 1997. Er und seine hochschwangere Frau sind zu Hause und warten darauf, dass die Wehen einsetzen. Die Tasche fürs Krankenhaus ist gepackt, unter anderem natürlich mit dabei eine Kamera.
Und weil er nun mal ein Techentrepreneur aus dem Silicon Valley ist auch nicht irgendeine Kamera, sondern der heißeste Scheiß, den man zu der Zeit haben konnte. Eine Casio QV-10.
Das ist die Kamera, die die Digitalkamerarevolution gestartet hat. Die erste für Konsumenten erschwingliche Digitalkamera. 800 Dollar war so ungefähr der Kaufpreis. Unglaubliche 320 mal 240 Punkte Auflösung. Das sind ungefähr ein viertel Megapixel. Zum Vergleich: meine Handykamera hier hat 64 Megapixel, das sind 256-mal so viel.
Als die Wehen bei seiner Frau einsetzen greift er also diese Tasche nebst Kamera und weil man ja nie so genau wissen kann, wie lange man dann nun im Krankenhaus eigentlich nur wartet, hat er auch noch seine Arbeitstasche mit seinem Laptop dabei. Muss ich erwähnen, dass auch Laptops damals weder besonders üblich noch besonders klein waren?
Er nahm den Kram jedenfalls mit, weil er zu der Zeit an einem kleinen Projekt arbeitete, mit dem er den Versand großer Dateien vereinfachen wollte. Statt z. B. Bilder als E-Mail-Anhängsel rumzuschicken wollte er an einer zentralen Stelle das Bild ablegen und nur einen Link darauf per E-Mail verschicken.
Kahn greift sich also Tasche, Telefon, Laptop und wirft sich mit seiner Frau ins Auto, um schnellstmöglich ins Krankenhaus zu fahren. Weil er sich nicht an die Höchstgeschwindigkeit hält wird er unterwegs noch aufgehalten und weil der Polizist ihm nicht glaubt, dass er auf dem Weg zur Entbindungsstation ist, bekommt er ein Ticket, aber hey, egal. Jedenfalls sitzt er dann da.
Wer selbst schon mal in der Situation war, weiß es vielleicht. Bei den allermeisten Menschen vergeht zwischen den ersten Wehen und der Geburt einiges an Zeit. Zeit, die es totzuschlagen gilt. Ein Glück, dass er seinen Krempel dabei hat. Vielleicht, so der Gedanke, könnte er irgendwie eine Verbindung zu den Computer bei ihm daheim in der Küche herstellen und von da aus dann ein paar Testdateien verschicken.
Heutzutage hat man Data auf seinem Handy oder WiFi im Krankenhaus. Philippe Kahn und seine Frau hatten ein Handy, eine Kamera und einen Laptop. Laptop und Handy konnte er miteinander verbinden. Aber Kamera und Laptop waren Problem, denn er hatte kein passendes Kabel dabei und Kamera und Handy wäre natürlich noch viel praktischer aber dafür existierte gar kein passendes Kabel.
Und jetzt kommt ein ziemlich unterhaltsamer Twist in dieser Anekdote. Denn woran erkennt man, dass man mit einem Vollblutnerd verheiratet ist? Genau. Wenn der im Kofferraum einen Lötkolben dabei hat. Und woran erkennt man, dass die Frau dieselbe Art von Nerd ist? Genau. Wenn sie ihm dabei zuhört, wie er über das mangelnde Kabel flucht und ihn daran erinnert, dass er doch einen Lötkolben dabei hat und es wird doch genügend Kabel im Auto geben müsste, aus denen man so ein Kabel machen könnte.
Philippe Kahn läuft also runter zu seinem Auto, holt sich den Lötkolben, nimmt den Seitenschneider, schneidet Kabel aus seiner Autostereoanlage heraus und bastelt auf der Entbindungsstation, während seine Frau am Wehenschreiber hängt, ein Verbindungskabel, um Handy, Laptop und Kamera so miteinander zu verbinden, dass er ein Foto aufnehmen, es nach Hause zu seinem Computer schicken und direkt per E-Mail an Freunde und Familie verteilen kann.
Ich meine, bei der Entbindung fotografieren war sowieso der Plan. Das Foto danach an Freunde und Familie weiterzuverteilen auch. Wäre doch cool, wenn man das noch gleich durch die Software daheim durchrutschen lassen kann. So oder so ähnlich war der Gedanke.
Als seine Frau Sonja zur Entbindung gefahren wird, ist alles bereit. Im Kreissaal hat Philippe Laptop, Kamera, Handy und diverse Kabel zur Hand, um das große Ereignis zu dokumentieren. Später in Interviews erzählt er von der kindlichen Freude des Doktors, der von der Apparatur so fasziniert war, dass man ihn daran erinnern musste, dass es da noch eine Entbindung gab, um die er sich kümmern musste.
Und irgendwann ist es dann so weit. Philippes Tochter Sofia kommt am 11. Juni 1997 in Santa Cruz in Kalifornien auf die Welt und er kriegt sie in den Arm gelegt und macht ein Foto von ihr. 15 Minuten später geht dieses Foto an c.a. 2000 Freunde und Familie. Die ist nämlich um den ganzen Erdball verteilt.
Seine Frau ist Südkoreanern, er ist aus Frankreich, sie leben in den USA. Die E-Mail mit dem Foto Sofias geht also um die Welt. Und es bleibt natürlich auch nicht bei dem Bild. Wie sich das für stolze Eltern gehört gibt es diverse Schnappschüsse der müden, aber glücklichen Familie.
Und die Reaktionen lassen nicht lange auf sich warten. Neben den zu erwartenden Glückwünschen kommen dann allerdings auch sehr, sehr schnell hunderte Rückfragen. Denn die Leute sehen, dass die Bilder anscheinend 15 Minuten alt sind, wenn sie bei ihnen in ihren Emailinboxen ankommen und fragen, wie er das denn bitte geschafft hat. Zu der damaligen Zeit musste man ja normalerweise sein Foto mit der Digitalkamera machen, die dann irgendwann an den Computer anschließen, die Bilder übertragen, die übertragenen Bilder in eine E-Mail packen, die E-Mail versenden et cetera. 15 Minuten, das war praktisch Echtzeit. Und als Philippe sieht, was dieser kleine Hack für eine Resonanz hat, geht ihm ein Licht auf.
Interessanterweise ist trotzdem nicht Philippe Kahn derjenige, der die ersten wirklich kommerziell verfügbaren Fotokameras auf den Markt bringt. Der Preis geht an mindestens drei, wenn nicht sogar vier verschiedene Firmen, die alle von sich behaupten können, in irgendeiner Art und Weise die ersten gewesen zu sein. Das Ganze spielt sich dann zwischen dem Jahr 1998 und 2000 ab. Verschiedene Geräte kommen auf den Markt mit verschiedenen Möglichkeiten, die alle mehr oder weniger dieselbe Idee haben, nämlich eine Kamera und ein Telefon zusammenzubringen.
Die Idee der Software hingegen, die führte Kahn und seine Frau zur Gründung ihres nächsten Unternehmens, ein Multimedia Messaging Unternehmen, das dann später von Verisign gekauft werden sollte.
Und bis heute beschäftigt sich dieses Powerpärchen damit, Technologie zu entwickeln. Über 230 Patente werden Phillip Khan zugeschrieben und das Spektrum reicht von Hardwarebasteleien bis hin zu modernsten AI-Tools. Und habe ich schon erwähnt, dass die beiden schon mit Borland einen bleibenden Eindruck auf die Geschichte der IT hinterlassen haben?
Aber ich muss auch zugeben, es ist schon spektakulär cool, die Wartezeit bis zur Entbindung damit zu überbrücken, dass man ein Kameratelefon hin MCGyvert, um dann mit einem Babyschnappschuss in die Geschichte der Fotografie einzugehen. Das ist auch der Grund, warum das Time Magazine völlig zurecht das Bild von Baby Sofia Kahn in der Liste der 100 einflussreichsten Fotografien aller Zeiten führt.
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