15. Oktober 2022

Schneeflocken für die Ewigkeit

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Wilson Bentley galt jahrelang als der erste Mensch der eine Schneeflocke fotografiert hat. Auch wenn wir heute wissen, dass ein anderer Mann (Johann Flögel) schneller gewesean war, so war es doch Bentley der über 40 Jahre hinweg dranblieb und uns 5831 einzigartige Aufnahmen hinterlies.


Transkript

Ich glaube es ist keine Übertreibung, wenn man Wilson Bentley als etwas schrullig bezeichnet.
Allerdings, ich würde sagen, die gute Art von schrullig.
40 Jahre lang beschäftigte er sich mit einem Foto-Hobby und machte seine Sache so gut,
dass er bis heute den Standard setzt.
Wilson Bentley wird am 9. Februar 1865 in Vermont in eine Farmerfamilie geboren.
Er wird später selbst Farmer und bleibt sein gesamtes Leben am elterlichen Hof.
Als Farmer.
An dem kleinen Wilson fällt von Anfang an sein ungewöhnlich großer Wissensdurst auf.
Er wird zu Hause von seiner Mutter, einer ehemaligen Lehrerin, unterrichtet und die
fördert sein umfassendes Interesse an allem, was in der Natur um ihn herum vor sich geht.
Besonders fasziniert ihn dabei ihr Mikroskop.
Blätter, Insekten, einfach alles was man unter dieses Mikroskop legen kann, wird von
Wilson ausführlich studiert.
In Vermont sind die Winter sehr lang.
Schnee fällt gerne schon im September und auch im Mai kann es durchaus noch kalt und
eisig draußen werden.
Und so ist es dann auch kein Wunder, dass Wilson Bentley irgendwann anfängt auch Schneekristalle
unter das Mikrofon zu buxieren.
Die haben es allerdings in sich.
Erstens fallen die ja nicht unbedingt immer einzeln, zweitens verdunsten die sehr schnell,
also selbst wenn es nicht warm ist auf der Unterlage auf die sie fallen und drittens
reicht dann oft schon ein Atemhauch um sie komplett in Wasser zu verwandeln.
Für all diese Probleme findet Wilson Bentley Lösungen.
Während also alle anderen Familienmitglieder sich am liebsten im Haus beim Feuer aufhalten,
steht er mit einer Holzplatte, die mit schwarzem Samt überzogen ist, im Hof und fängt Schneeflocken.
Mit einer Feder separiert er die einzelnen Kristalle und wenn die mit dem bloßen Auge
interessant aussehen, rennt er schnell in eine Scheune, wo das Mikroskop aufgebaut ist
und versucht sie genau anzusehen und dabei abzuzeichnen.
Schnell stellt er fest, dass keine zwei Schneeflocken gleich sind und das liegt daran, weil sie
sich beim Fall zur Erde bilden und die genauen Bedingungen, also Temperatur, Luftfeuchtigkeit
und so weiter, sind nicht vorhersagbar und variieren stark genug, dass die fertigen Kristalle
nahezu unendlich variantenreich sind.
Außerdem stellt er schnell fest, dass selbst unter Idealbedingungen die Schneekristalle
so schnell verdunsten, dass er sie nicht abzeichnen kann.
Es ist die Mitte der 1880er Jahre, das heißt die Fotografie ist inzwischen überall auf
der Welt angekommen.
Und Wilson ist klar, wenn er die Vergänglichkeit der Schneekristalle schon nicht schnell genug
zeichnen kann, dann muss er sie eben fotografieren.
Und er beginnt damit seiner Familie mit dem Wunsch nach einer damals sündhaft teuren
Balkenkamera in den Ohren zu liegen.
Sein Vater hält das Ganze für ein Hirngespinst, die Ausgabe ist eigentlich viel zu groß für
seine Familie, aber die Mutter möchte das Interesse ihres Sohnes unterstützen.
Und so beginnen die Eltern zu sparen.
Als Wilson 17 wird, ist es dann soweit.
Eine Balkenkamera zum Geburtstag.
Wilson ist aus dem Häuschen vor Freude und macht sich sofort ans Werk und scheitert erstmal
monatelang damit, mit dieser Kamera brauchbare Ergebnisse zu produzieren.
Heute würden wir ja erstmal online gehen, vielleicht auf YouTube nach Anleitungen suchen.
Und falls wir damit nicht weiterkommen, vielleicht gleichgesinnte Umgebungen befragen.
Für Wilson war die Situation da deutlich schwieriger.
Nicht nur gab es keinerlei Anleitungen, besonders auch nicht für den Anwendungsfall, der ihm
vorschwebte, er war außerdem in Vermont auch auf dem Land, also mitten im Nirgendwo.
Es gab keine Kameraklubs und keine anderen Fotografinnen und Fotografen, die er hätte
befragen können.
Er musste sich sein Wissen selbst erarbeiten.
Und dafür brauchte er so knapp zwei Jahre.
Am 15.
Januar 1885 ist es dann soweit.
Wilson Bentley fotografiert zum ersten Mal erfolgreich eine Schneeflocke.
Jahrelang galt das übrigens als das erste Schneeflockenbild überhaupt.
Inzwischen wissen wir, dass so knapp sieben Jahre vor ihm ein deutscher Wissenschaftler
namens Johann Flögel den ersten Schneekristall festgehalten hat.
Allerdings hat sich Johann Flögel längst nicht so sehr für Schneeflocken begeistert
wie Wilson.
Der nutzt nämlich ab jetzt jeden Tag, an dem Schnee vom Himmel fällt, um zu versuchen,
wenigstens ein paar Schneekristalle festzuhalten.
Der Ablauf ist wie damals mit dem Mikroskop.
Mit einem schwarzen Brett draußen stehen die Schneeflocken, einfangen, dann mit einer Feder
die Kristalle separieren und wenn es ein besonders schöner Kristall ist, schnell in die Scheune,
wo der ganze Apparat schon aufgebaut ist und bereit ist, um ein Foto zu machen.
Als er einmal die Technik raus hatte, war die Technik an sich nicht mehr das Problem.
Was man aber seinen Schneeflocken ansieht, ist, dass er völlig fasziniert und verliebt
geradezu in die Schönheit der Strukturen war.
In den ersten Jahren hat er im Jahr etwa 10 bis 12 Schneeflocken, die er auf die Art festhält.
Aber über die Jahre wird seine Technik immer ausgefeilter und 40 Jahre später fotografiert
er 60 am Tag.
Richtig gehört, 40 Jahre lang fotografiert er Schneekristalle.
Insgesamt hinterlässt er uns 5381 einzigartige Aufnahmen.
Er fotografiert mit extrem kleiner Blende und belichtet ca. 100 Sekunden lang.
Fotografisch beschränkt sich Wilson fast ausschließlich auf seine Schneeflocken, aber
auch an Tagen, an denen kein Schnee fällt, ist er nicht untätig.
Er beobachtet und dokumentiert alle Wetterphänomene, die einem so einfallen können.
Er vermisst akribisch die Größe von Regentropfen bei bestimmten Wetterlagen und gilt als ein
Pionier der Meteorologie.
Das alles nur als Hobby.
Denn hauptsächlich ist er für den Hof seiner Eltern zuständig und kümmert sich nach dem
Tod seines Vaters um die nach und nach immer kränker werdende Mutter.
Wenn die Zeit es erlaubt, spielt er Klarinette und Klavier oder befasst sich mit seinen Aufzeichnungen.
Eine Frau hat er nicht.
13 Jahre lang geht er schon diesem Hobby nach, als sich ein Wissenschaftler bei ihm meldet
und sich zum ersten Mal für seine Aufnahmen interessiert.
Er kauft ihm ein paar der Flockenfotos für ein Seminar an der University of Vermont ab
und ist so begeistert, dass er ihn dazu animiert, einen Artikel in der Fachpresse zu schreiben.
Er hilft ihm auch, diesen Artikel zu schreiben und zu platzieren.
Die Aufnahmen faszinieren und andere Magazine greifen sie auch auf.
Für einen kurzen Moment reisen diese Aufnahmen um die Welt und werden wieder und wieder abgedruckt.
Viel mehr Interesse erregen sie allerdings nicht.
Die Fachwelt interessiert sich nicht für ihn und seine Arbeit, denn er ist ja selbst
kein Akademiker.
Und außerdem sind seine Texte viel zu sehr davon geprägt, wie sehr er die Schönheit
seiner Schneekristalle oder auch der Wetterbeobachtungen liebt.
Sie sind also irgendwie nicht sachlich genug.
Trotzdem kann er immerhin Magazine wie National Geographic oder das New York Times Magazine
zu seinen Publishern zählen.
Als diese Welle allerdings abebbt, kommen die nächsten Anfragen aus eher ungewöhnlicher
Ecke.
Juweliere und Textilindustrie haben seine Schneeflockenmuster entdeckt und wollen die Rechte an einzelnen
dieser Designs haben, damit sie sie weiterverarbeiten können.
Wilson Bentley war es überwiegend einerlei.
Er war ja eh nicht auf Ruhm und Ehre aus, sondern einfach nur fasziniert von diesem
Hobby und der Leidenschaft für die Schönheit der Natur.
Speziell der Natur, die er im Wetter und eben in Regen und Schnee erkannte.
Und seine über 5800 Schneekristallfotos waren derartig hochwertig und professionell in Szene
gesetzt, dass es über 100 Jahre dauerte, bis irgendjemand anders auch nur versucht es ihm
nachzumachen.
Da hilft es natürlich auch, dass er seine Schneekristalle 1931 in einem Buch „Snow
Crystals“ veröffentlicht und damit sein Lebenswerk hinterließ.
Gerade noch rechtzeitig, denn gerade mal einen Monat später zieht sich der damals 66-Jährige
eine Lungenentzündung zu, an der er dann auch stirbt.
Was Wilson Bentley gemacht hat, können wir heute fast schon gar nicht mehr.
Nämlich einfach nur aus eigener Faszination und ausschließlich für sich selbst.
Nicht zum Veröffentlichen, nicht für den Applaus anderer fotografieren.
40 Jahre lang hat er das gemacht.
Immer mit derselben Kamera, die ihm mit 17 geschenkt worden war.
5831 Schneekristalle, die wir auch heute noch als Buch kaufen und bestaunen können.
FotoMenschen.
Das war sie also, die Geschichte des ersten Schneekristallfotografen der Welt.
Vielleicht auch des einzigen, der so viele Kristalle fotografiert hat.
Wer mehr von Wilson Bentley und seiner Geschichte lesen oder auch die Schneekristallfotos bestaunen
möchte, einfach auf der Webseite fotomenschen.net den Links in den Notizen zur Sendung folgen.
Da wird man umfassend fündig.
Und wer schon da ist, wie immer, ich sag’s gern nochmal, ich freu mich über Feedback,
ich freu mich über Kommentare, ich freu mich über 5-Sterne-Rezensionen auf iTunes oder
einer anderen Podcast-Plattform oder Kommentare im Blog oder Themenhinweise.
Jede Art von Rückmeldung ist mir willkommen.
Außerdem hab ich noch einen kleinen Hinweis in eigener Sache.
Ich hab nämlich ein Buch zum Podcast geschrieben.
Und das hab ich komfortablerweise in den Notizen zur Sendung oder auf der Webseite verlinkt.
Ja, und vielleicht ist es ja für euch auch was.
Und damit vielen lieben Dank fürs Zuhören, passt auf euch auf und bis bald.

2 Responses

  1. Tom sagt:

    Hallo und guten Morgen.

    Ich bin durch Zufall auf diesen Podcast gestoßen. Proffessionell und unterhaltsam produziert. Toll.
    Jeder, der auch nur ein bischen Zeit in irgendein Hobby gesteckt hat sollte bemerken, daß das nicht in wenigen Minuten erledigt ist. Ich beschäftige mich selbst etwas mit der Geschichte der Fotografie und bin überzeugt, daß jeder etwas durch sie lernen kann.

    Zeit also ein Dankeschön zu hinterlassen.
    Es gibt einen für mich interessanten Fotografen, durch den ich einiges lernen konnte: Andreas Feininger. Gerade seine Werke zur Fotografie besitzen noch heute, in digitalen Zeiten, einen hohen Lehrwert. Er hätte einen Platz in dieser Reihe meiner Meinung nach auch verdient.

    Also: danke für die vielen unterhaltsamen Stunden und einen schönen Advent,
    Tom.

    • Dirk sagt:

      Vielen Dank für das tolle Feedback! Ja, Andreas Feininger ist sicherlich ein ganz besonderer Fotograf. Ich werde mir die Geschichten rund um ihn auf jeden Fall mal genauer ansehen. Seine Bücher kenne ich natürlich sowieso 🙂

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