8. Mai 2022

Wer ist Erika Mustermann?

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Schon 1978 tauche eine gewisse Renate Mustermann auf Beispieldrucken und Kampagnen der Bundesdruckerei auf aber erst die 1982 auftauchende Erika wurde zu einer regelrechten Kultfigur.


Transkript

Der Zwang Reisepapiere haben zu müssen ist eine verhältnismäßig moderne Erfindung. Früher konnte man sich einfach so bewegen, allerdings war das mit Risiken verbunden und um die einzugrenzen, begann man schon früh Leuten, die in wichtigen Missionen unterwegs waren Geleitscheine mitzugeben. In solchen Geleitscheinen verlangten dann Fürsten oder andere Menschen, die im Zweifel viel Einfluss geltend machen konnten, dass dem Träger dieses Schreibens freies Geleit und Sicherheit gegeben werden sollte.

Das war immer noch keine Garantie, Reisen war immer noch eine gefährliche Geschichte, aber man wollte sich halt nicht mit einem König anlegen, der ja potenziell über Armeen verfügte und damit stieg die Wahrscheinlichkeit, dass man bei Vorzeigen solcher Unterlagen auch auf den Schutz und das Geleit in fremden Ländern hoffen konnte. Die Person, die diesen Geleitschein ausstellte, wies sich durch ein Siegel aus. Und damit man jetzt den Träger identifizieren konnte und sicherstellen konnte, dass man diesen nicht einfach nur gestohlen hatte und damit unterwegs war, gab es in so einem Schreiben einen Absatz, in dem der Träger beschrieben wurde. Welche Haarfarbe, groß – klein, besondere Merkmale, wie z.B. Narben oder Tätowierungen etc. Das ist die Vorstufe zu modernen Reisepapieren.

Sich nicht mit den Ausstellern des Schreibens anlegen zu wollen, sorgte für die Sicherheit, die Beschreibung sorgte dafür, dass man den Träger erkannte.

1839 lernte die Welt nun, wie man fotografierte oder wie es damals noch hieß: Daguerreotypien erstellte. Und wenige Jahre später wurde es dann auch möglich schnell genug zu belichten, dass man Menschen belichten konnte. Plötzlich war etwas in Reichweite, was bisher nur Adeligen vorbehalten war, nämlich ein Abbild von sich selbst machen zu lassen, ganz normale durchschnittliche Menschen konnten zu einem Daguerreotypist gehen und ein Bild von sich fertigen lassen und diese Bilder konnte man verschenken. Das war trotzdem immer noch relativ teuer, weil Daguerreotypien Einzelstücke waren und aus Silber aber schon das nächste sich durchsetzende Verfahren konnte dann Bilder auf Papier produzieren und beliebig oft vervielfältigt werden. Und damit kam nicht nur die Idee auf, Fotos von sich zu machen und zu verschenken, sondern eine regelrechte Mode. Menschen hatten sogenannte Cartes de Visites, also Visitenkarten. Das waren kleine Portraits auf der Rückseite, mit etwas Text ergänzte, die man an Besucher und Bekanntschaften weiterreichte. Und da dauerte es natürlich nicht lang, da fing man an diese Cartes de Visites auf zum Beispiel Passierscheine zu kleben. Natürlich waren diese Bilder von unterschiedlicher Qualität, die Menschen versuchten gut auszusehen und posierten für diese Fotos, mal waren es Oberkörperportraits mal Ganzkörperportraits und Retusche gehörte selbstverständlich zum Standardrepertoire damaliger Portraitfotograf/-innen. Will heißen es war manchmal ein Glücksspiel, ob man die Person auf der Cartes de Visites auch wirklich erkennen würde, wenn man sie auf der Straße antraf.

Das änderte sich mit dem Aufkommen der biometrischen Fotografie. Hörerinnen und Hörer des Fotomenschen Podcast erinnern sich vielleicht noch an Alphonse Bertillon, der 1882 als Erster ein detailliertes System entwarf, mit dem biometrische Fotografien für den Polizeigebrauch festhalten konnte, er überzeugte damals durch seine Ermittlungserfolge und zeigte damit anschaulich, dass es sinnvoll war zu standardisieren, wenn man für etwas anderes als Selbstdarstellung fotografierte. Und das war so einleuchtend, dass rund um den Erdball Regierungen damit begannen, ihren Bürgern entsprechende Ausweispapiere auszuhändigen und zu verlangen, dass da ein Foto einzukleben sei. In Deutschland war es 1885 soweit, sicherlich nicht überall, sicherlich nicht zu jedem Zweck, aber mehr und mehr wurden Bestimmungen erlassen, die solche Fotografien in Ausweispapieren verpflichtend machten. Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, war der mit Bild versehene Personalausweis schon sehr verbreitet, aber verpflichtend war er nicht, das änderten die Nazis. Am 10. September 1939 erscheint das Reichsgesetzblatt zur Verordnung über den Pass und Sichtvermerkszwangs, sowie über den Ausweiszwang, ab jetzt war es Pflicht. Und natürlich gab es von Anfang an Vorgaben, wie diese Bilder auszusehen hatten. Und natürlich hielten moderne Reiseunterlagen mit der Entwicklung Schritt, waren die am Anfang buchstäblich Reisepapiere, also aus Papier, beschloss man in den 80ger Jahren des letzten Jahrhunderts, dass Plastik das wesentlich robustere Material war. Und so erteilte die damalige Bundesregierung der Bundesdruckerei den Auftrag einen neuen Perso aufzulegen, der sollte in Plastik eingeschweißt sein und damit wesentlich widerstandsfähiger werden. Die Druckerei erarbeitete ein Konzept und begann damit, die Öffentlichkeit zu informieren.

Um das gute Stück zeigen zu können, wurde ein Muster erzeugt, ein Beispielausweis. Und der musste natürlich irgendjemanden zeigen und das war die Geburtsstunde von Erika Mustermann. Laut ihren Unterlagen ist sie am 12.09.45 in München geboren, Deutsch und ist wohl verheiratet, denn ihr Geburtsname ist Gabler, ca. 1,60m groß, grüne Augen, blonde Haare. Die Idee eine fiktive Person für Beispieldrucke zu verwenden war nicht neu, es gab schon seit ungefähr fünf Jahren eine Renate Mustermann, aber irgendwie hatte Renate es nie geschafft, die Fantasie der Deutschen so anzuregen, wie Erika. Die Bundesdruckerei begann ihre Kampagne und mit ihr die Boulevardpresse ihre Recherche, wer sich denn hinter Erika Mustermann verbarg.

Ergebnis der Recherchen: Es war wohl eine Mitarbeiterin der Bundesdruckerei und auch Folgemodels wurden so rekrutiert. Als 1997 die Passfotos farbig wurden, gab es eine neue Erika Mustermann, und auch 2001 als Hologramme eingeführt wurden und 2005 als der Perso im Scheckkartenformat ausgegeben wurde, hatten wir jeweils neue Erikas auf den Mustern. Keine dieser Erikas reichte aber an den Erfolg dieser allerersten Erika Mustermann heran, die Bundesdruckerei wurde mit Fanpost geflutet, Männer machten Erika einen Heiratsantrag, es gab Interviewanfragen und der Name an sich wurde natürlich auch übernommen. Suchte man danach findet man diverse Kampagnen, die mal mit mal über Erika Mustermann informieren, z.B. hat das Bundesministerium mit dem Titel „Erika hat nen neuen“ in damaligen sozialen Netzwerken wie beispielsweise StudiVZ und SchülerVZ über den neuen Perso informiert.

Und natürlich blieb es nicht bei Erika Mustermann, es gibt das männliche äquivalent: Max Mustermann, 2010 behauptete die TAZ der Adoptivvater von Erika Mustermann hieße Franz Xaver Gabler. Auf den Mustern des EU-Führerscheins gibt es eine Anne Mustermann oder im Kinderreisepass kann man einen Leon Mustermann finden.

Wer jetzt auf die Suche nach Leuten, die wirklich Mustermann heißen geht, wird feststellen, die gibts, allerdings keine Erika Mustermann. Man findet einen Eintrag Erika Mustermann im Augsburger Telefonbuch, der verweist aber auf eine ehemalige Aussteigerkommune, die den Namen irgendwanneinmal eingetragen hat, um sich die An- und Abmelderei ihrer wechselnden Mitglieder zu sparen. Aber einen Max Mustermann, den gibts es tatsächlich, aber nur einen.

Den hatten seine Eltern Max getauft, noch bevor Max Mustermann der de facto Standard unter den männlichen Musterfiguren war und er behauptet, er mag seinen Namen, auch wenn er praktisch bei allen Telefonaten, bei denen er sich vorstellt, im Verdacht steht, seinen gegenüber gerade verarschen zu wollen. Die aktuelle Erika ist übrigens seit 2010 unverändert auf offiziellen Musterdrucken zu sehen. Ich bin ja mal gespannt, ob sich da nicht auch demnächst wieder mal eine neue Mitarbeiterin der Bundesdruckerei vor die Kamera stellen darf. Ist ja langsam schon wieder überfällig.

1 Response

  1. Lutz Prauser sagt:

    Eine spannende, ein wenig nostalgisch anmutende Folge. Danke.
    Aber bitte: Sag NIE NIE NIE wieder in dem Podcast Mitgliederinnen und Mitglieder (8′ 00“).
    Das schmerzt jeden Sprachfetischisten, wie ich einer bin, zutiefst. So etwas könnte beim Autofahren, denn da höre ich Deinen Podcast meistens, zu unberechenbarem Lenkradvereißen führen.
    Verbindlichst dankt
    Lutz

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