16. Oktober 2021

Afghan Girl

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

1984 fotografiert Steve McCurry in einem Flüchtlingscamp ein Foto der damals ca. 13jährigen Sharbat Gula und schuf damit das bis heute erfolgreichste National Geographic Cover. Das Bild erreicht als „Afghan Girl“ weltweiten Kultstatus und sorgte später nachdem man Sharbat Jahrzehnte später ausfindig gemacht hatte für ihre Sicherheit.

Credits:


Transkript

Unsere heutige Geschichte fängt Anfang der 80er an, irgendwo in Afghanistan. Die kleine Sharbat schaut in den Himmel. Sie hört Helikopter auf ihr Dorf zufliegen. Es sind sowjetische Militärhubschrauber, die direkt mit einem Angriff beginnen, einen Angriff, der das Dorf komplett überrascht. Sharbats Eltern kommen bei dem Angriff ums Leben. Der Rest ihrer Familie befindet sich ab jetzt zusammen mit ihr auf der Flucht.

Zu Fuß über die verschneiten Berge Pakistans schaffen sie es zu einem Flüchtlingscamp an der Pakistanisch-Afghanischen Grenze. Und das ist der Ort, an dem eins der ikonischsten Fotos des 20. Jahrhunderts geschossen werden wird.

Es gibt einen zweiten Menschen, der für unsere Geschichte heute wichtig ist. Und das ist ein berühmter Fotograf, Steve MCCurry, der zu der Zeit, als Sharbat vor den Angriffen der Sowjets fliehen musste, schon über 30 Jahre alt war. Eigentlich wollte Steve ursprünglich mal Filmemacher werden, studierte dann aber darstellende Künste. Durch einen Nebenjob bei einem Zeitungsverlag kam er dann zur Fotografie.

Steve hatte noch nicht viel von der Welt gesehen und er wollte ein bisschen herumkommen und so entschloss er sich zu einer Reise nach Indien. Und da entdeckte er natürlich auch schnell, dass seine Bilder sich durchaus verkaufen ließen. Mal verkaufte er an journalistische Medien wie Zeitungen zum Beispiel, mal ging es eher um die Bebilderung von Reisemagazinen. Er bereiste die ganze Region und so verschlug ihn es auch irgendwann nach Pakistan und in Pakistan hörte er dann zum ersten Mal von dem Krieg in Afghanistan.

Er freundete sich mit afghanischen Rebellen an und überzeugte sie davon, ihn als Afghane verkleidet in von Rebellen kontrolliertes Gebiet zu schmuggeln. Im Westen wusste man zu der Zeit wenig über den Konflikt in Afghanistan. Das Geschehen war weit weg, die Menschen hatten kein Gesicht. Steve MCCurry war erschüttert, aber er war als Fotograf gekommen, er hatte Filme und Kameras dabei. Und so beendete er diese erste Reihe mit unzähligen belichteten Filmen, die er, damit er sie außer Landes schmuggeln konnte, in seinen Turban und seine Unterwäsche einnähte.

Und es sind diese Fotos, die seine Karriere erst so richtig ins Rollen brachten. Renommierte Zeitungen wie die New York Times und Time Magazine veröffentlichten Bilder von ihm und er gewann im selben Jahr die Robert-Capa-Goldmedal, einen Preis, der für herausragende Fotoreportage vergeben wird.

Und ganz im Stil dieses ersten Erfolgs geht es für Steve MCCurry weiter. Er bleibt nicht nur in der Region, sondern er begleitet mit seiner Kamera die Menschen in den bewaffneten Konflikten im Mittleren Osten, in Indien, als Iran und Irak im Krieg sind, ist Steve MCCurry dabei, der Bürgerkrieg in Kambodscha, der Bürgerkrieg in Libanon, der Golfkrieg oder der Afghanische Bürgerkrieg, Steve MCCurry ist dabei und portraitiert und hält fest.

Sieht man sich sein Werk an, stellt man zwei Sachen fest: Erstens geht es Steve MCCurry nie in erster Linie um die Situation, sondern immer um die Menschen, die er darin festhält. Der Großteil seiner Bilder und alle seine erfolgreichen Bilder sind im Grunde Portraits. Manche davon Gruppenportraits, manche davon mit mehr Kontext, viele davon zeigen natürlich auch die Umgebung, aber es geht immer um die Menschen, die er festhält.

Das nächste, was auffällt, ist, dass Steve MCCurry ein Meister der Farbfotografie ist. Und zwar ein Meister der Reduktion in der Farbfotografie. Steve MCCurry hat nicht nur ein Auge für die besonderen Gesichter, die besonderen Szenen, die herausstechenden Situationen, er geht außerdem mit Farbe so virtuos um, dass seine Bilder einen ganz eigenen Look haben. Bei seinen besten Fotos sieht es fast so aus, als wären in dem Bild eigentlich nur noch zwei bis drei Farben vorhanden.

Steve MCCurry wird auch immer mal wieder vorgeworfen, dass seine Fotografien sehr stereotypische Szenen zeigen. Die Menschen aus Indien in Steve MCCurrys Bildern sehen wirklich so aus, wie sich westliche Menschen Leute in Indien nun mal vorstellen: Sonnengegerbte, dunkle Haut, bunte Turbane, erdfarben. Und trotzdem ist Steve darauf auch nicht begrenzt. Immer wieder mal fotografiert er auch einfach nur Landschaften und Tiere. So wird er 2015 zum Beispiel dafür engagiert, für Microsoft ein ganz offizielles Windows 10 Hintergrundbild zu machen und 2019 kommt ein Buch heraus, das man beim Taschen Verlag kaufen kann, in dem er seine Lieblingstierbilder veröffentlicht hatte.

Aber eigentlich sind es die Bilder von Menschen, für die er berühmt ist, und es gibt ein Bild, das ihn wahrscheinlich wie kein anderes in seinem mehrere hunderttausend Fotografien umfassendes Portfolio definiert. Und da sind wir jetzt wieder angekommen bei Sharbat. Irgendwann 1984 begibt es sich nämlich, dass Steve MCCurry im Auftrag von National Geographic Fotos in den Flüchtlingscamps von Pakistan macht. Er läuft durch die Zeltstadt und kommt an einer Schule vorbei. Naja, „Schule“ ist so ein großes Wort, an einem etwas größerem Zelt, in dem Mädchen unterrichtet werden. Es ist gerade kein Unterricht, die Kinder tollen herum und Steve fällt ein Mädchen sofort wegen seiner durchdringenden Augen auf: Sharbat. Er redet mit der Lehrerin, die selbst eine Kriegsversehrte ist, ihr fehlt ein Bein, sie kann nur mit Krücken laufen. Steve wird von den Menschen, die das Flüchtlingslager betreiben, als eine Chance gesehen, die Weltöffentlichkeit auf die Zustände aufmerksam zu machen und so stimmt die Lehrerin dabei zu, ihm dabei zu helfen, die Mädchen zu fotografieren.

Er hat es eigentlich nur auf dieses eine Kind abgesehen, wegen diesen Augen, aber er möchte natürlich auch, dass das Kind sich wohlfühlt vor seiner Kamera. Es ist ungewöhnlich, als ein westlicher Mann überhaupt in so einer Umgebung unterwegs sein zu dürfen und Mädchen zu fotografieren ist noch viel ungewöhnlicher. Und so hält sich Steve eine Weile lang in dem Zelt auf und fotografiert verschiedene Kinder der Klasse. In einem Interview später sagt er, er wollte auch eine Situation schaffen, in der sich alle Beteiligten wohlfühlen und in der sich das Mädchen, das ihm aufgefallen war, fast schon ausgeschlossen fühlen würde, wenn sie nicht auch fotografiert wird.

Schließlich kommt sie an die Reihe. Sie ist scheu. Sie ist schon in der Pubertät und für Mädchen in der Pubertät geziemt es sich nicht, ihr Gesicht vor Männern zu zeigen, ganz besonders nicht vor westlichen Männern. Und so hält sie ihren Schal vor ihr Gesicht. Steve macht verschiedene Fotos, so um die acht bis zehn, und positioniert sie an unterschiedlichen Stellen in dem Zelt. Die Lehrerin hilft ihm beim Übersetzen und posieren des Mädchens. In den meisten dieser Bilder sieht sie mehr oder weniger unbeholfen aus, unsicher, aber es gibt zwei Aufnahmen, in denen sie plötzlich sehr konzentriert in die Kamera blickt. In einer dieser zwei Aufnahmen hält sie den Schal vor den Mund, in der anderen Aufnahme blickt sie seitlich direkt in die Kamera.

Steve MCCurry reist wieder ab, die Filme werden dem Büro zur Entwicklung übergeben und setzt sich wenige Tage später mit seinem Redakteur bei National Geographic hin, um Bilder auszuwählen. Schnell ist klar, dass dieses Mädchen ein potenzielles Coverbild ist. Wenn man wie Steve on Assignment ist, weiß man nicht, dass man jetzt unter Umständen gerade für ein Cover fotografiert, man macht einfach Fotos. Und die Entscheidung, ob irgendetwas auf dem Cover landet oder nicht, wird dann von der Redaktion und den Bildeditoren getroffen.

Im Falle von Steves Bildern war auf jeden Fall schnell klar, dass eines seiner Fotos von diesem Flüchtlingscamp ein Kandidat für ein Coverbild sein würde, allerdings gibt es zuerst Unsicherheit, ob dieses Bild überhaupt geeignet sein würde. Es ist ein sehr eindrucksvolles Bild, ein sehr durchdringender Blick. Vielleicht, so die Sorge, ist das Bild zu frontal für die Leser von National Geographic. Aber das Bild, wo das Mädchen den Schal vor den Mund hält, das ist doch vielleicht geeignet.

Steve ist überzeugt davon, dass das Bild, wo man das Gesicht komplett sieht, das stärkere Bild ist, und so ertrotzt er sich, dass der Bildeditor beide Fotos vorgelegt bekommen soll. Der wiederum schaut sich die beiden Bilder an und ist sofort sicher: Das Foto, das wir heute als „Afghan Girl“ kennen, kommt auf das Cover von National Geographic.

Und stellt sich schnell als National Geographics erfolgreichstes Cover heraus. Das Bild wird sofort ikonisch. Reproduktionen dieser Aufnahme gibt es auf der ganzen Welt und es ist das einzige Coverbild, das der National Geographic in seiner Geschichte dreimal als Titelbild verwendet. Es zeigt Sharbat, wie sie vor dem grünen Zelt ihres Schulzelts steht und mit ihren eindringlich grünen Augen ernst in die Kamera schaut.

Viel wurde darüber geschrieben, warum dieses Bild diese Wirkung entfaltet. Es ist auffällig, wie Steve MCCurry hier die Farben reduziert hat. Im Grunde ist dieses gesamte Bild eine Mischung aus Braun- und Grüntönen. Ihr Überwurf ist löchrig, der hat Brandflecken von ihrer Flucht. Der ernste Gesichtsausdruck, die durchdringenden Augen, die tiefgrün, aber mit einem dunklen Rand versehen sind, es ist ein Bild, das man stundenlang anschauen kann.

Ich habe oft gelesen, dass dieses Bild den Menschen die Situation der Flüchtlinge vor Augen geführt haben soll, ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. Denn es ist außerdem ein sehr ästhetisches Portrait. Klar, ihr Überwurf hat Löcher, klar, sie ist leicht dreckig im Gesicht, aber nichts an diesem Bild deutet auf das Elend hin, das in diesem Flüchtlingscamp herrschen muss. Ja, sie sieht ernst aus, aber eigentlich ist das zunächst mal eine wirklich schöne Aufnahme, in der man sich verlieren kann.

Die Aufnahme bekommt nochmal Extraschub, als nach den Anschlägen am 11. September die Bush-Administration sich für Rechte von Frauen in Afghanistan stark macht und dieses Bild als eine ikonische Darstellung dieser geknechteten und unterdrückten Frauen herhält. Für Steve MCCurry muss schnell klar gewesen sein, dass dieses Bild dein Ausnahmefoto ist. Regelmäßig wird er dazu interviewt. Immer wieder wird er gefragt, wer ist dieses Mädchen. Hätte er gewusst, welchen Wirbel diese Aufnahme erzeugen würde, er hätte sich Details geben lassen. So aber war er aus dem Flüchtlingscamp abgereist, ohne zu wissen, wie das Mädchen heißt, wie alt es wirklich war, welche Geschichte es hinter sich hatte, außer, dass es eine von den vielen Flüchtlingsmädchen ohne Eltern war.

Und so begann er in den 90ern, nach diesem Mädchen zu suchen. Den Namen herauszufinden. Und das ist wirklich schwierig in einem Land und einer Kultur, in dem Frauen sich normalerweise vollverschleiert zeigen oder gar nicht in die Öffentlichkeit gehen und in einem Milieu, in dem Papiere und Registrierungen nicht unbedingt gerade verbreitet sind. Und deswegen findet er das Mädchen auch nicht.

Man muss dazu auch verstehen, dass diese Aufnahme, so ikonisch sie sein mag, eigentlich nur in unserem Kulturkreis so verbreitet ist. Klar gibt es Menschen in Afghanistan und in Pakistan, die diese Aufnahme auch gesehen haben, aber nur im westlichen Kulturkreis ist die Aufnahme derart berühmt geworden, dass sie buchstäblich jedes Kind kennt. In Afghanistan und Pakistan kann man sein Leben leben, ohne diesem Bild je große Beachtung geschenkt zu haben.

Trotzdem vergeht, so sagt Steve MCCurry in verschiedenen Interviews, keine Woche, ohne, dass jemand nach der Identität dieses Mädchens fragt. Und deswegen erklärt sich National Geographic im Jahr 2002 bereit, eine Expedition auszustatten und nach diesem Mädchen systematisch zu suchen. Das Ganze wird von einem Kamerateam begleitet und soll eine Dokumentation werden.

Und diesmal ist man erfolgreich. Die damals etwas über 30 Jahre alte Sharbat wird erfolgreich aufgespürt und dann zum zweiten Mal in ihrem Leben von Steve MCCurry fotografiert. Oder überhaupt zum zweiten Mal fotografiert. Sie hat immer noch diesen durchdringenden Blick.

Durch diese Begegnung wissen wir jetzt auch etwas mehr über ihre Geschichte. Sie hat wohl irgendwo zwischen ihrem 13. und 16. Lebensjahr geheiratet und kehrte dann 1992 in das Dorf zurück, aus dem sie als kleines Mädchen geflohen war. Ihr Leben war nicht unbedingt gerade einfacher gewesen, nachdem sie das Flüchtlingslager verlassen hatte. Sie bekommt fünf Kinder, eins davon stirbt noch als Baby, und drei davon sind Mädchen und so sagt Sharbat im Interview mit dem National Geographic Team, dass sie wirklich hofft, ihren Kindern eine Ausbildung ermöglichen zu können.

2012 dann stirbt ihr Mann und hinterlässt sie als Witwe. Zu dem Zeitpunkt war sie wieder nach Pakistan zurückgekehrt und hier ist es auch, wo sie dann 2015 und 2016 Probleme mit den dortigen Behörden bekommt. Ihre Dokumente stellen sich als teilweise unecht heraus und so wird sie festgenommen. Und hier ist auch der Moment gekommen, in dem es wirklich praktisch ist, als Afghan Girl durch Steve MCCurry für immer ikonisiert worden zu sein. Amnesty International protestiert medienwirksam und öffentlich und so entscheidet sich der damalige Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, Sharbat nach Kabul einzuladen und dort ganz offiziell nicht nur einzubürgern, sondern zu ehren. Sie bekommt in der Hauptstadt eine 280 m² große Residenz zugeteilt und die Regierung verspricht, sie finanziell zu unterstützen.

Und das ist der letzte Stand, den wir von Sharbat haben. Zum Zeitpunkt der Aufnahme haben ja die Taliban gerade wieder die Regierung übernommen und so weiß man im Moment leider nicht, wie es Sharbat Gula im Augenblick geht. Ist sie immer noch in der Unterkunft, wird sie immer noch vom Staat finanziell unterstützt, das ist im Moment unklar. Ich nehme aber mal an, so wie in der Vergangenheit ist es auch jetzt so, dass Steve MCCurry regelmäßig nach Sharbat Gula gefragt wird und deswegen auch ein Interesse daran haben wird, diesen Kontakt vielleicht immer wieder mal zu halten.

Und auch National Geographic ist, seit sie erfolgreich aufgespürt wurde, immer mit ihr in Kontakt geblieben. Es wurde ein Fund in ihrem Namen aufgelegt, um afghanische Kinder zu unterstützen und man unterstützte sie finanziell, als sie eine Pilgerfahrt nach Mekka unternehmen wollte, übernahm National Geographic die Kosten, als medizinische Behandlungen notwendig wurden für Familienmitglieder, wurde auch das vom National Geographic bezahlt.

Gleichzeitig reißen allerdings auch kontroverse Diskussionen rund um Steve MCCurry und auch speziell diese Aufnahme anscheinend nicht ab. Wir sind heute sensibler in manchen Situationen als frühere Generationen von Fotografinnen und Fotografen es waren. Steve MCCurry war manchmal unterwegs in einem Spannungsfeld zwischen Journalismus und künstlerischer Fotografie. Magazine wie der National Geographic waren sicherlich nicht mit journalistischem Anspruch unterwegs und so war Steve MCCurry unter anderem auch dafür bekannt, dass er Fotos durchaus auch dirigierte. Anders, als es Journalisten erwarten würden, posierte er also auch mal seine Models, so also zum Beispiel das Afghan Girl. Das allein wird schon immer wieder mal angeprangert.

Während seiner Karriere hat Steve MCCurry mehrere hunderttausend Fotos gemacht und da er nicht nur im Auftrag von Zeitungen und Magazinen unterwegs war, sondern sich auch durch die berühmte Pressefotoagentur Magnum vertreten ließ, kam es irgendwann zu Problemen mit Fotos, die nachträglich bearbeitet waren. Steve MCCurry hat eigentlich nie den grundsätzlichen Sinn und die Bildaussage verändert, aber Bilder, die im journalistischen Kontext verwendet werden, dürfen nun mal nicht, um ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen, stark bearbeitet worden sein. Und manche von Steve MCCurrys Bildern waren durchaus deutlich bearbeitet worden. Da wurden Bildelemente weggestempelt, Farben verändert, und so kam es in den 2010ern zu einer etwas größeren Kontroverse rund um seine Aufnahmen.

Und wenn man schon mal dabei ist, kann man natürlich auch gleich weitermachen und über die Rolle von westlichen Fotografen, gerne auch weißen, männlichen westlichen Fotografen in Krisengebieten und in Flüchtlingscamps reden. Hatte nicht Steve, so der Vorwurf, hier eine Machtposition ausgenutzt? Das ist eine Frage, der sich alle Krisenfotografinnen und -fotografen heutzutage stellen müssen. Sie reisen in Regionen der Welt, in denen entsetzliches stattfindet, machen da dann Fotos und verkaufen diese Fotos. Und wenn sie dann nicht im Kontext von journalistischer Berichterstattung, sondern zum Beispiel in Bildbänden oder in Ausstellungen erscheinen, kann man argumentieren, dass sie ja auf dem Elend dieser Menschen aufbauend ihren Lebensunterhalt verdienen.

Das Gegenargument freilich ist dann, dass solche Fotos Menschen auch aufmerksam machen auf Zustände, Menschen dazu bringen, Mitgefühl zu haben. Von dem Foto „Afghan Girl“ wird behauptet, dass es überhaupt erst dafür gesorgt hat, dass Menschen sich für den Konflikt in Afghanistan interessiert haben.

Aber es ist eine kontroverse Diskussion, unter anderem auch deswegen, weil ja bekannt ist, dass Mädchen sich normalerweise eben nicht unverschleiert einem westlichen oder überhaupt einem fremden Mann zeigen, Steve MCCurry aber dafür gesorgt hat, dass dieses Foto, das ein unverschleiertes Mädchen zeigt, weltberühmt wurde. Er hat da gewissermaßen einen Tabubruch begangen, einen Tabubruch, den wir vielleicht als hinnehmbar empfinden, der aber im dortigen Kulturkreis problematisch ist. Er macht sich einer Anmaßung schuldig.

Obendrein hat Sharbat ja niemand gefragt, ob sie damit einverstanden ist. Das ist ja ein Thema, das ich auch schon in der Folge zum Napalm Girl angesprochen habe. Kaum, dass ein Foto nicht nur gemacht und veröffentlicht wurde, sondern von der Weltgemeinschaft als ikonisch wahrgenommen wird, verlieren die Menschen auf den Bildern anscheinend alle Rechte an dieser Aufnahme. Sharbat Gula, also zumindest die 13-jährige Sharbat Gula gehört jetzt irgendwie uns allen, ob es ihr nun passt oder nicht. Und klar hat das auch Vorteile für sie, aber in unserer heutigen Zeit haben wir verändert, wie wir über die Frage der Zustimmung nachdenken. War es vor wenigen Jahrzehnten noch völlig in Ordnung, einfach Wildfremde zu fotografieren und deren Portraits zu veröffentlichen, egal, ob sie wollten, oder nicht, ist das heute an immer engere moralische und ethische Grenzen geknüpft. Wo man persönlich jetzt da die Linie ziehen möchte, bleibt jetzt jedem selbst überlassen.

Steve MCCurry selbst hat sich im Rahmen dessen, was damals üblich war, verantwortungsvoll und freundlich bewegt. Klar hat er Menschen posiert, klar wusste er auch, wie er sich bewegen muss, um die Bilder zu bekommen, die er gerne bekommen wollte, aber er hat uns auch eindrückliche Werke geschenkt und auf verschiedensten Wegen versucht, auch wieder etwas zurückzugeben. Im Falle von Sharbat ist es hoffentlich so, dass ihr Status als Fotoikone sie auch jetzt in der neuen Situation in Afghanistan beschützt.

6 Responses

  1. Lutz Doerfert sagt:

    Hallo Dirk, ich will nun doch mal Deiner Aufforderung folgen und einen Kommentar und Themenvorschlag abgeben. Erstmal vielen Dank für die tollen, unterhaltsamen, lehrreichen und tiefgründigen Storys, die Du uns Hörern Woche für Woche präsentierst. Man kann Deine Begeisterung für das Thema Fotografie förmlich spüren. Bitte weiter so. Dein Podcast gehört zu den wenigen, die ich jedes mal sehnlichst erwarte. Ich hätte den Vorschlag, die Geschichte des brasilianischen Fotografen Sebastiao Salgado vorzustellen. Du kennst bestimmt den Film „Das Salz der Erde“. Den fand ich super spannend, insbesondere welche Auswirkungen das Dokumentieren/Fotografieren von zu viel Leid auf den Fotografen haben kann. Vielleicht würde das auch die anderen Hörer interessieren. Liebe Grüße, Lutz

    • Dirk sagt:

      Lieber Lutz, danke für das Lob und den Vorschlag! Salgado ist tatsächlich einer der ganz Großen. Ich habe hier sein Buch „Genesis“ und angesichts der Menge an fantastischen Arbeiten darin kann man nur noch sprachlos sein… Kommt definitiv auf die Liste.

  2. Alex sagt:

    Wahnsinnig interessante Geschichte, vielen Dank dafür und auch für die Einordnung. Ich kannte das Bild natürlich vorher schon und war besonders wegen eines Lieds der finnischen Band Nightwish daran interessiert, was hinter dem Bild steckt.

  3. Jürgen sagt:

    Grüß dich, das war jetzt meine erste Folge welche ich von deinem Projekt gehört habe und mach schon von der Möglichkeit gebrauch hier „seinen Senf dazu geben“ zu können.
    Erst mal, herzlichen Dank dass du dir die Arbeit machst und das hier alles möglich machst, es wird sicher nicht meine letzte gewesen sein.

    Ich hätte da eigentlich nur einen persönlichen Einwand, eigentlich mehr ne bitte.
    Mich wunderts auf Instagram zB immer wenn jemand die tollsten analogen Bilder postet und dann nicht dazuschreibt welcher Film verwendet wurde, selbiges denk ich mir jetzt.
    Also wäre es bitte möglich, natürlich nur wenn dir die Info bekannt ist, mit aufzuführen welches Filmmaterial verwendet wurde miteifließen zu lassen? Schlussendlich ist es der Film welche die grünen Augen so betont hat, besten Dank und weiter so. lg ein Hörer

    • Dirk sagt:

      Hallo Jürgen,

      lieben Dank für Deine Rückmeldung und für das Lob!
      Zufällig lässt sich bei Steve sehr gut nachvollziehen womit er gearbeitet hat denn er war bekannt dafür fast exklusiv mit Kodachrome Film zu arbeiten. Daher kann ich deine Frage hier in den Kommentaren in diesem einen Fall gut beantworten. Allgemein gibt es aber verschiedene Gründe warum ich wohl auch in Zukunft eher nicht darauf eingehen werde. Einmal ist es so dass gerade bei historischen Filmen die Information wenig wert ist. Die Filme existieren so oft nicht mehr, um vollständige Angaben zu machen müsste man außerdem auch noch wissen wie entwickelt wurde und überhaupt ist ziemlich oft weder das eine noch das andere einfach herauszufinden. Viel wichtiger ist allerdings ein zweiter Grund: Fotomenschen ist kein Technikpodcast und richtet sich auch nicht speziell an Fotograf:innen. Ich versuche einen Podcast zu machen der auch den Hörerinnen und Hörern gefallen kann die eigentlich nur die Geschichte spannend finden oder auch für die Leute die sich eigentlich nur für das Bild an sich begeistern. Filme, Brennweiten, Kameramarken sind deswegen kein Hauptteil der Episoden und werden auch nur in Ausnahmefällen erwähnt. Es gibt genug andere Podcasts die da schon drauf fokussieren, Fotomenschen ist da einfach anders positioniert. Ich hoffe das ist eine nachvollziehbare Begründung und der Podcast ist trotzdem spannend genug 🙂

      Liebe Grüße, Dirk

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