21. August 2021

Das Leben der Anderen

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Soziale Fotografie ist heute sehr verbreitet aber zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Genre unbekannt. In dieser Zeit arbeitet der Polizeireporter Jacob Riis. Er schreibt gegen das soziale Elend New Yorks an und beginnt irgendwann zur Illustration zu fotografieren… Herauskam eines der wenigen Fotobücher das wirklich für sich reklamieren kann die Welt verändert zu haben.


Transkript

Wir glauben ja gerne, dass Fotografie die Welt verändern kann, aber in Wahrheit fällt es dann doch sehr schwer, Beispiele zu finden, wo das wirklich und nachweislich geschehen ist. Heute geht es um so ein Beispiel; um einen Mann mit einer unglaublichen Lebensgeschichte, in der alles vorkommt: Vollständiger Absturz ins Elend, Aufstieg zu Reichtum und Einfluss, eine Jahrzehnte überdauernde Liebesgeschichte, innovative Fotografie und Bilder, die die Welt verändert haben.

Der Mann, von dem ich heute erzähle, ist einer der Gründerväter der Straßenfotografie und der sozialen Fotografie. Er war ein Reporter, er selbst hätte sich nicht als Fotograf beschrieben, er hätte gesagt, er ist in erster Linie ein Autor, ein Journalist, ein Beobachter der Menschen. Es dauerte 50 Jahre, bevor man in als das erkannte, was er eigentlich war: Ein Fotograf, dessen Stil ein ganzes Genre geprägt und für grundlegende Veränderung gesorgt hatte.

Dabei dauert es tatsächlich relativ lang, bis er selbst zu seiner Berufung gefunden hatte. Jakob Riis wurde 1848 als drittes Kind von 15 in Dänemark in einen Lehrer- und Journalistenhaushalt geboren. Sein Vater wünschte sich für ihn, dass er eine akademische Laufbahn oder doch wenigstens eine Karriere als Autor anstreben würde, aber der junge Jakob hatte praktischeres im Sinn und wollte Zimmermann werden. Ein lokaler Zimmerer stellte ihn als Lehrling an und so schien die Laufbahn als Handwerker schon mal gesetzt. Seine Familie wusste auch, dass es keinen Sinn machte, ihn umzustimmen zu versuchen. Er war ein recht eigenwilliger junger Mann.

Er war bekannt für ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und ein großes Herz. Es gibt eine überlieferte Anekdote vom damals gerade mal 12 Jahre alten Jakob, dass er einmal sein gesamtes erspartes Geld einer armen Familie angeboten hatte, wenn die im Gegenzug ihr heruntergekommenes Zuhause reinigen und aufbessern würden. Die entschieden sich, das Geschäft anzunehmen und hielten sich an die Abmachung. Als Jakobs Mutter von der Geste erfuhr, machte sie sich spontan auf den Weg und half der Familie bei den Arbeiten.

Aber zurück zu Jakob, den 16-jährigen Zimmereilehrling. Wer weiß, was später passiert wäre, hätte er sich nicht in die damals 12-jährige Tochter seines Meisters verliebt. Sie war der Verbindung eigentlich nicht abgeneigt, aber, wie man sich vorstellen kann, war weder sein Meister noch seine Familie sonderlich begeistert. Um die Situation zu bereinigen, schickt ihn sein Vater für die verbleibenden drei Jahre seiner Ausbildung in das weit entfernte Kopenhagen. Da, so hofft er, wird sich sein Sohn die Flausen aus dem Kopf schlagen und wenn er zurückkommt mit abgeschlossener Ausbildung seinen Weg gehen, wie von ihm erwartet.

Wieder hat man die Rechnung ohne Jakob gemacht, der kommt mit 19 zurück, wilder entschlossen den je, die jetzt 15-jährige Tochter zu heiraten. Sein ehemaliger Meister ist jetzt so wenig begeistert, wie er drei Jahre zuvor begeistert war und lehnt ab.

Und so beschließt Jakob in seinem Kummer und seinem Ärger, das zu tun, was gar nicht wenige junge Männer gemacht haben: nämlich in die neue Welt aufzubrechen. Er ist 21, als er sich auf den Weg in die Vereinigten Staaten macht. In seinem Gepäck hat er 40 Dollar, die seine Freunde für ihn gesammelt haben, die Überfahrt hat er aus eigener Tasche bezahlt, das waren ungefähr 50 Dollar. Und als kleines Abschiedsgeschenk steckt ihm die Frau seines ehemaligen Meisters noch etwas ganz Besonderes zu: eine Strähne von seiner großen Liebe Elisabeth. Stellt sich heraus: Nicht nur die Tochter wäre eigentlich zugeneigt gewesen, auch die Mutter hatte eigentlich nichts gegen die Verbindung. Trotzdem ist Jakob jetzt schonmal auf dem Weg und er hat natürlich auch den Anspruch, allen zu zeigen, wozu er imstande ist und sein Glück zu machen in der neuen Welt.

Jakob kommt 1870 in New York an. Es ist eine Welt im Umbruch. Nicht nur sind Millionen Menschen aufgebrochen, um in den USA ihr Glück zu versuchen, der amerikanische Bürgerkrieg hat außerdem noch dafür gesorgt, dass die Menschen vom Land in die Städte gezogen sind. Die Städte sind die Orte, an denen die Industrialisierung für Möglichkeiten und Arbeit sorgen und manche Stadt verachtfacht in dieser Zeit ihre Bevölkerung.

Jakob kommt auch in Zustände, die wir uns heute, glaube ich, gar nicht mehr vorstellen können: 1880 gibt es in New York in der Lower East Side einen Distrikt, in dem 334000 Menschen auf einer Quadratmeile untergebracht sind – die dichtest besiedelte Meile der Welt. In und um New York bilden sich Slums der übelsten Sorte. Unterkünfte, in denen 10 bis 15 Menschen in einem einzelnen kleinen Zimmer schlafen müssen, sind die Norm. Die Polizei betreibt Armenunterkünfte, Menschen, die auf der Straße eingesammelt werden, werden dorthin zwangseingeliefert, müssen dann da in ähnlich beengten Verhältnissen schlafen und hinterher 5 Cent pro Übernachtung abdrücken. 5 Cent ist für die damals oft mittellosen, armen Menschen ein Heidengeld. Denn hätten die diese 5 Cent, dann hätten die auch noch billiger schlafen können. Es gibt sogenannte 2-Cent-Kneipen, in denen man für 2 Cent einen Teller Suppe und das Recht, die Nacht dort im Sitzen zu schlafen, kaufen kann.

Jakob landet in diesem Viertel an. Er hat 40 Dollar, ist also zunächst mal ordentlich versorgt und er hat ein Empfehlungsschreiben für den dänischen Botschafter in der Tasche, sollte er Hilfe brauchen. Die ersten 20 Dollar sind leicht investiertes Geld, er kauft sich nämlich sofort einen Revolver, um sich gegen menschliche oder tierische Angreifer wehren zu können. Die anderen 20 Dollar sollen ihm über die Zeit helfen, die er braucht, um Arbeit zu finden. Jakob versucht sich als Stahlarbeiter und als Zimmerer, lernt aber schnell, dass es für Immigranten zwar viel harte Arbeit, aber wenig Bezahlung gibt.

Als er davon hört, dass Frankreich Preußen den Krieg erklärt hätte, versucht er, für Frankreich in den Krieg zu ziehen und sich einziehen zu lassen; erfolglos.

Ab hier beginnt eine kleine Odyssee für Jakob: Er versucht sich als Farmhilfe, er arbeitet als Steinmetz für ein lokales Maurerunternehmen und versucht, jede Gelegenheit zu nutzen, doch noch für Frankreich in den Krieg ziehen zu dürfen. Irgendwann hört er von Plänen einer Gruppe Freiwilliger von New York aus in den Krieg aufzubrechen und macht sich damit dann auch selbst wieder auf den Weg zurück in die große Stadt. Zu der Zeit schläft er mehr unter freiem Himmel als unter einem Dach. Er ernährt sich von Fallobst, er ist auf Almosen angewiesen und obwohl er versucht zu arbeiten verdient er kaum genug, um sich gelegentlich mal eine Unterkunft leisten zu können. Als er zurück in New York ist, stellt er fest, dass das Gerücht zwar stimmte, er aber zu spät gekommen war. In New York war es auch schwerer, einfach unter freiem Himmel zu schlafen und so schließt Jakob erste Bekanntschaften mit den von der Polizei betriebenen Unterkünften. Er ist so angewidert von den Zuständen, die er vorfindet, dass er sich wenig später wieder auf den Weg macht.

Seine wenigen Besitztümer hatte er sowieso nach und nach verkauft: Die Waffe hat er zum Beispiel schon lange nicht mehr. Und mit dem letzten Seidentaschentuch, das er noch in seiner Tasche fand, kauft er sich eine Fährkarte und macht sich auf den Weg nach Philadelphia. Auf dem Weg dahin nimmt er jede Arbeit, die sich bietet und er schafft es nach Philadelphia, wo er dann mit dem Empfehlungsschreiben, das ihm seine Eltern mitgegeben hatten, vor dem dänischen Konsul vorstellig wird, der ihn aufnimmt und zwei Wochen lang wieder aufpäppelt.

Es ist diese Zeit, in der er dann tatsächlich sowas wie ein ordentliches finanzielles Standbein aufbauen kann. Er arbeitet als Zimmermann und fängt an, so viel Geld zu verdienen, dass er sich es leisten kann, nebenher als Autor zu experimentieren. Er schreibt Artikel, die er bei lokalen Zeitungen und Magazinen einreicht, allerdings mit wenig Erfolg. Seine Themen finden nicht viel Anklang, seine Schreibe ist oft zu polemisch. Er kehrt also zurück nach New York City. Dort versucht er, mit allem möglichen Fuß zu fassen und ist einigermaßen erfolgreich als Vertreter für Bügeleisen.

Die Geschäfte laufen gut. Nicht lange und er hat Angestellte und Vertretungen in mehreren amerikanischen Bundesstaaten. Er ist der Hauptvertreter einer Bügeleisenmarke im Bundesstaat Illinois und auch in Pennsylvania ist er aktiv. Allerdings ist Jakob auch chronisch gutmütig und gutgläubig und so dauert es auch nicht lange, bis er an die falschen gerät und von Geschäftspartnern komplett über den Tisch gezogen wird.

Außerdem ereilte ihn eine Hiobsbotschaft. Elisabeth, die junge Frau, deren goldene Locke er seither in einer Schachtel immer am Herzen trägt, ist verlobt. Jakob ist am Boden zerstört und macht das, was er da anscheinend immer macht, nämlich nach New York zurückkehren. Wieder ist er ohne Finanzmittel, wieder ist er arbeitslos, wieder ist er in New York.

Allerdings hat er inzwischen Übung in der Kunst des Artikelschreibens und in New York gibt es Bedarf an Menschen, die schreiben können. Er bewirbt sich auf eine Stellenausschreibung als Redakteur beim Long Island Newspaper und kriegt den Job. Es ist ein relativ hoch dotierter Job und es ist schon fast verdächtig, dass ein Newcomer wie er diesen Job einfach so bekommt. Kaum hat er die Stelle, stellt er fest, warum das so ist: Der Besitzer der Zeitung ist ein derart ausbeuterischer und unehrlicher Geselle, dass alle anderen Kandidaten abgelehnt hatten oder ihm davongelaufen waren. Und so hält es auch Jakob gerade mal zwei Wochen in dieser Stelle.

Jetzt ist er wieder arbeitslos. Äußerlich aussehend wie ein Landstreicher, aber immer noch ganz gut vernetzt, wird ihm zugetragen, dass die New York News Association nach einem Trainee suchen würde. Jakob wäscht sich dürftig in einem Pferdetrog und macht sich auf den Weg zu dem Interview und obwohl er aussieht wie ein Landstreicher, schafft er es, die zuständigen zu überzeugen und bekommt diese Stelle. Das ist tatsächlich ein roter Faden durch die gesamte Biografie von Jakob: Wann immer er die Gelegenheit bekommt, mit Menschen zusammenzutreffen, scheint er sie davon zu überzeugen, dass sie ihr Vertrauen in ihn setzen können. Ganz egal, wie er aussah.

Jakob hatte ein besonderes Talent, zwischen den verschiedenen Schichten hin und her zu wechseln und gleichermaßen über die Reichen wie über die Ärmsten der armen schreiben zu können. Er arbeitet hart und es zahlt sich für ihn aus. Nach und nach baut er sich ein kleines Vermögen auf, kann auch schnell seine Schulden zurückzahlen und gewinnt Routine in der Arbeit eines Journalisten. Die Zeitung, bei der er arbeitet, macht ihn schnell zum Hauptredakteur, allerdings steht sie auch kurz vor dem Bankrott. Und Jakob kämpft dagegen an, wie alle anderen, die bei dieser Zeitung arbeiten.

Es ist diese Zeit, in der sich einerseits nach und nach finanzielle Stabilität für ihn einstellt, andererseits die Firma, bei der er angestellt ist, auf den Bankrott zusteuert, als ihn die Nachricht ereilt, dass daheim in Dänemark zwei seiner älteren Brüder, seine Tante und der Verlobte seiner Elisabeth gestorben waren. Jakob will nach Dänemark zurückkommen, um seine Brüder zu betrauern, aber er sieht natürlich auch die Gelegenheit, Elisabeth endgültig für sich zu gewinnen und macht ihr einen Antrag, schriftlich, per Post.

Und um zu zeigen, dass man ihm vertrauen kann und dass man auf ihm eine Existenz aufbauen kann, beschließt er, mit seinen Ersparnissen die kurz vor dem Bankrott stehende Zeitung zu kaufen und in die schwarzen Zahlen zu führen. Das schafft er zwar nicht, aber seine Zeitung ist so unbequem, dass ihm Lokalpolitiker anbieten, die Zeitung von ihm zurückzukaufen, und zwar für knapp den fünffachen Betrag, den er dafür investiert hatte. Und so war Jakob durch glückliche Fügung praktisch über Nacht zu kleinem Reichtum gekommen, der es ihm erlaubte, sorgenfrei nach Dänemark zu fahren und dort seiner Elisabeth ganz regulär den Hof zu machen. Die beiden heiraten und als das Geld dem Ende zuneigte, zogen sie wieder zurück nach New York, wo Jakob sich auf die Suche nach einer Anstellung bei einer lokalen Zeitung machte.

Es ist der New York Tribune, der ihn schließlich als Polizeireporter einstellt. Sein Büro ist gegenüber der Polizeistation, die für den damals größten Slum der Welt, die Slums von New York City, zuständig war. Jakob begleitet die Polizisten auf ihren Einsätzen und er sieht alles, was man nur an menschlichem Elend, an Gewalt und an Verbrechen zu Gesicht bekommen kann.

Und er schreibt dagegen an. Er selbst war ja oft genug als obdachloser unterwegs und hat deswegen einen persönlicheren Zugang zu vielen der Themen als so mancher seiner Leserinnen und Leser. Und eigentlich macht er sich auch keine Illusionen. Die Menschen, denen es damals gut geht, die interessiert nicht, wie es den ärmeren geht. Sie wissen nichts darüber, sie erfahren kaum etwas darüber und Artikel, die Jakob schreibt, egal, wie blumig die Sprache, egal, wie leidenschaftlich die Worte, dringen nicht durch diesen Panzer.

Anfangs wird er in seinem Schreibstil einfach nur noch melodramatischer und eindringlicher. Als er damit anscheinend nichts bewirken kann, denkt er über Zeichnungen und Skizzen nach, allerdings ist er kein besonders guter Zeichner, deswegen gibt er die Idee besonders schnell wieder auf.

Die fotografische Technik der damaligen Zeit, wir reden von den 1880ern, ist nicht geeignet, um bei schlechten Lichtverhältnissen Straßenszenen festzuhalten. Jakob ist oft nachts oder in der Dämmerung unterwegs und würde sehr gerne fotografieren, aber die Bilder sind meistens vollkommen unbrauchbar. All das ändert sich, als er 1887 von einer Erfindung der Deutschen Adolf Miethe and Johannes Gaedicke liest. Die hatten nämlich sogenanntes Blitzlichtpulver entwickelt. Das war eine Magnesiumpulvermischung, die in Patronen gefüllt wurde und mit einer Vorrichtung, die wie eine Pistole aussah, abgefeuert wurden und einen hellen Lichtblitz produzierten. Damit konnte man endlich auch nachts oder bei Dämmerung fotografieren.

Und er bringt mehrere dazu, mit ihm zusammen mit Blitzlichtpulverpatronen und Kamera bewaffnet in die Slums von New York einzudringen und Fotos zu machen. Und das Vorgehen war nicht ganz ungefährlich: Im Allgemeinen lief er durch die Stadt und wann immer er etwas fotografieren wollte, näherte er sich vorsichtig der Szene, löste den Blitz aus und lief dann so schnell er konnte mit seinem ganzen Equipment davon.

Wegen dem Risiko und den nächtlichen Arbeitsstunden blieben seine Freunde nicht lange bei der Stange und so war Jakob gezwungen, selbst zu lernen, mit den fotografischen Gerätschaften umzugehen, besonders, weil sehr, sehr deutlich wurde, dass seine Fotos eine Wirkung entfalteten, die seine Artikel nie gehabt hatten. Die Menschen sahen Bilder von Armut, die ihnen so bisher nie gezeigt worden waren. Mitglieder des Mittelstands oder der gehobenen Klassen gingen nicht in die Slums, sahen sich nicht an, wie Arbeiter lebten. Sie sahen weder den Dreck, noch das Elend, noch die Gewalt und die Brutalität, die in diesen Vierteln ihren Wohlstand mit sicherte.

Und Jakob bleibt nicht nur bei seinen Artikeln. Er verkauft Abzüge seiner Fotografien, er macht Lichtbildschauen, wo er mit einem Projektor auf einer Leinwand unter freiem Himmel Bilder projiziert. Er hält Vorträge, er schreibt Bücher. Es gibt mehrere Dinge, die er ganz konkret geändert sehen möchte. Er will, dass einzelne dieser Slumgebiete abgebaut und umgeformt werden. Er schlägt vor, Unterkünfte für die Armen zu bauen und die Slums zu Parks umzuwandeln. Und ganz besonders sind ihm die von der Polizei betriebenen Unterkünfte ein Dorn im Auge. Die Zustände dort sind fast noch elender als irgendwo in den Slums und eigentlich dienen die nur der Unterdrückung der Armen.

Es ist diese Zeit, als er den gerade frisch ernannten Polizeipräsidenten kennenlernt, ein Mann namens Theodore Roosevelt. Der hatte nämlich das Buch entdeckt, das als ein Meilenstein der sozialen Reportage und sozialen Fotografie gilt und vielleicht eines der wenigen Beispiele ist, wo Fotografie tatsächlich zu echten Änderungen beigetragen hat. Das Buch trägt den Titel „How the Other Half Lives“. Es ist eine Mischung aus Artikeln von Jakob Riis und Fotografien und Zeichnungen, die auf Fotografien basieren.

Jakob macht sich bei seinen Fotografien nicht viele Gedanken um Komposition, oft sieht er ja gar nicht, was er fotografiert. Eines seiner berühmtesten Bilder wird in einem dieser Zwei-Cent-Lokalen aufgenommen. Dort hat er zwei Cent bezahlt, die ihn zum Schlafen und Suppe essen in einem überfüllten, stickigen Raum berechtigten. Er hat sich dort hingesetzt und als dann alle eingeschlafen waren, richtet er im Dunkeln auf dem Tisch die Kamera aus, öffnet das Objektiv und feuert die Blitzlichtpistole. Man sieht, wie beengt dieser Raum ist. Das Licht wird von der Decke reflektiert, es sieht fast so aus, als würde die Cholera in diesem Raum wabern. Und man sieht die Männer, die außenrum zum Teil verschreckt, zum Teil eben gar nichts mitbekommend auf den Tischen schlafen. Solche und andere Bilder, die ohne erkennbare künstlerische Komposition daherkommen, sind manchmal gerade deswegen besonders eindrücklich.

Roosevelt wurde jedenfalls durch dieses Buch auf ihn aufmerksam, tritt mit ihm in Kontakt und die beiden Männer formen eine Freundschaft, die ihr gesamtes Leben halten wird. Später wird Jakob für Roosevelt eine Kampagnenbiografie schreiben und Roosevelt wird sagen, dass er manche Dinge nie gemacht hätte, hätte er nicht die Bilder von Jakob Riis gesehen. Eine der Maßnahmen, die er noch als Polizeipräsident ergreift, ist, die Polizeischlafunterkünfte schließen zu lassen. Der Bundesstaat New York folgt dem Beispiel der Stadt New York und diesem Beispiel folgt wiederum der Rest des Landes. Und auch sonst nutzt Roosevelt seinen Einfluss, um der Sache, für die Jakob Riis kämpft, zu helfen, und sorgt dafür, dass die wichtigste Forderung von Jakob Riis tatsächlich Wirklichkeit wird. Die elendsten der Elendsviertel werden umgebaut. Die Menschen dort bekommen die Möglichkeit, in günstigere Wohnräume umzuziehen und der Slum wird dem Boden gleich gemacht und durch einen Park ersetzt.

Jakob schreibt mehrere Bücher, einige davon beschäftigen sich ausschließlich mit den sozial benachteiligten Menschen seiner Zeit. „How the Other Half Lives“ ist das berühmte, aber es gibt auch noch „Children of the Poor“, das ist eine Art Fortsetzung mit besonderem Blick auf die Kinder und Familien. Jakob zeugt mit Elisabeth vier Kinder, eine Tochter und drei Söhne, und seine Familie bleibt eine Aktivistenfamilie. Sein jüngster Sohn steigt in seine Fußstapfen, wird auch ein Reporter und Aktivist, ein anderer geht zurück nach Dänemark und wird dort Director of Public Information in Kopenhagen und kämpft während des Ersten Weltkrieges gegen den steigenden Antisemitismus in der Region.

1905 wird seine Frau Elisabeth nach fast 30 Jahren Ehe plötzlich krank und stirbt überraschend. Für Jakob markiert das das Ende seiner Zeit in New York. Er heiratet erneut 1907 und zieht mit seiner neuen Frau nach Massachusetts auf eine Farm in Barre. Dort wird er dann bis zu seinem Tod 1914 bleiben.

Es wird fast 50 Jahre dauern, bis man ihn als den einflussreichen Fotografen anerkennt, der er war. In Rückschau stellt man fest, seine Fotos haben eine Handschrift, auch wenn er selbst sich nie Gedanken um Bildkompositionen gemacht hat, hatte er doch ein Auge für die Fotografie und die Bilder sind eindrücklich, bleiben im Gedächtnis. Und waren prägend fürs Medium: Viele, die nach ihm kamen, eiferten ihm nach. Das zu der Zeit noch junge Medium der Straßenfotografie nimmt dann einige der ästhetischen Entscheidungen von Jakob auf und deswegen sehen die Bilder auch heute noch einigermaßen modern aus. 

Und in später über ihn veröffentlichen Papern wird darüber spekuliert, dass einige der durch seine Fotos inspirierten Sozialreformen in der Region wahrscheinlich tausenden von Menschen das Leben gerettet und für das Einrichten von sanitären Anlagen und besserer Wasserqualität gesorgt haben. Alles Indizien dafür, dass Fotografien eben doch manchmal verändern können, wie Menschen ihre Welt wahrnehmen.

Jakob Riis schwankte während seines Lebens mehrmals zwischen Obdachlosigkeit und Reichtum hin und her, verlor aber nie seinen moralischen Kompass. In mancherlei Hinsicht ist seine Lebensgeschichte fast schon typisch für die Immigranten der damaligen Zeit, aber gleichzeitig auch etwas sehr Besonderes, weil er eben mehrmals ganz am Boden ankam und dann trotzdem wieder die Energie fand, sich nach oben durchzukämpfen. Und er war ein Mann, dem es nicht darauf ankam, seine Verdienste aufgezählt zu bekommen. 

Heute weiß man, dass seine Bilder unter anderem dafür gesorgt haben, dass die Wasserversorgung von New York deutlich hygienischer wurde und damit wahrscheinlich aller Einwohner Leben besserten. Es waren seine Artikel, die Politiker vor sich hertrieben, es waren seine Fotos, die für die notwendige Aufmerksamkeit sorgten und er sorgte für ein Bewusstsein für die weniger privilegierten Menschen der Gesellschaft der damaligen USA, das es vorher so nicht gegeben hatte.

2 Responses

  1. Frauke sagt:

    Diese Folge fand ich total spannend. Dann habe ich mich gefragt: Gab es Dokumentarfotografie wie die von Jacob Riis nicht auch in Europa? (Elend gab es ja auch hier mehr als reichlich.) Außer Heinrich Zilles Fotografien bröckelnder Berliner Hinterhöfe und Mietskasernen aus den 1890er Jahre ist mir noch nicht viel derartiges begegnet (was nichts heißen muss). Einen Ausstellungskatalog mit Zilles Fotografien habe ich vor Jahren auf dem Flohmarkt erstanden und wieder hervorgesucht, nachdem ich Samstag Nachmittag den Podcast gehört hatte.

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