====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====
„Shadow Catcher“ nannten die amerikanischen Ureinwohner den Mann der 30 Jahre in das ambitionierteste Fotoprojekt seiner Zeit, vielleicht aller Zeiten investierte und versuchte die Kultur und Bräuche sämtlicher noch erreichbarer Stämme zu dokumentieren. Seine Lebensgeschichte ist turbulent und brachte ihn mit den Großen seiner Zeit zusammen.
- Wax cylinder recordings of Native American musical traditions (Indiana University)
- Kikisoblu [Prinzessin Angeline] (Wikipedia)
- Edward S. Curtis (Wikipedia)
- Princess Angeline or Kikisoblu, daughter of Chief Seattle, dies on May 31, 1896. (HistoryLink)
- Seattle (Wikipedia)
- YES! Magazine: Recordings help bring Native songs to life
- Die Indianerbilder des Edward Curtis (FAZ)
- ~ The North American Indian ~ (Edward S. Curtis, Fotografien aus der Pierpont Morgan Stiftung)
- Railroad Development in the Seattle/Puget Sound Region, 1872-1906
- Annals of old Angeline (Washington State Library)
- Edward S. Curtis and The North American Indian, Spring-Summer 2018: Snake Dancer
- Edward S. Curtis: Enduring Legacy (THE GALLERY OF PHOTOGRAPHIC HISTORY)
- THE NORTH AMERICAN INDIAN (Curtis Legacy Foundation)
Transkript
Wir befinden uns an der Westküste der USA. Die Stadt Seattle war nach einem Indianerhäuptling benannt worden. Beziehungsweise von dem Namen eines Indianerhäuptlings inspiriert benannt worden. Denn der eigentliche indianische Name war den meisten zu schwer auszusprechen. Seattle war da deutlich einfacher. Die Pazifikküste war erst vor kurzen an das amerikanische Eisenbahnnetz angeschlossen worden. Und damit hatten sich die Tore geöffnet. Weiße Einwanderer und Siedler konnten endgültig auch den bis dahin wilden und ungezähmten pazifischen Nordwesten erobern. Wobei, ganz so ungezähmt war der Nordwesten nicht. Da hatte es ja schon Ureinwohner gegeben. Und die gab es immer noch. Wir sind allerdings in einer Zeit, in der der Rote Mannn sich nach und nach der Übermacht des Weißen Mannes gebeugt hatte. Eine ganze Reihe von Verträgen waren abgeschlossen worden. Man hatte den ursprünglichen Einwohnern des Landes Gebiete zugewisen, in die sie sich zurückzuziehen hatten. Nicht notwendiger Weise immer die besten Gebiete möchte man hinzufügen.
Es ist jedenfalls diese Eisenbahnverbindung, bei der unsere Geschichte anfängt. Denn sie ist es, die den jungen Edward Curtis damals 17 Jahre alt vom fernen Wisconsin nach Seattle bringt. Sein Vater war Bürgerkriegsveteran mit nicht mehr allzu guter Gesundheit und ein evangelikaler Prediger. Man könnte also die Curtis Familie als bettelarm bezeichnen. Und deshalb stand auch nach der sechsten Klasse für den jungen Edward nicht mehr Schulbildung auf dem Programm, sondern die Aufgabe der Familie dabei zu helfen ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Umzug nach Seattle war mit der Hoffnung verbunden hier vielleicht sein Glück machen zu können. Hier gab es noch unzugewiesenes Land. Man konnte sich ein Grundstück zuweisen lassen. Und wenn man Glück hatte, war das genug für einen Neustart. Edward war schon in sehr jungen Jahren immer mit seinem Vater unterwegs gewesen, um die verschiedenen Gläubigen in seiner Gemeinde zu besuchen. Und hatte so gelernt, wie man unter freiem Himmel und mit nichts als dem, was die Natur einem bot, über die Runden kam. Die Familie Curtis hatte also nicht viele Gegenstände umzuziehen. Aber einer der Gegenstände, die sie umzog, war das Objektiv, das der Vater aus dem Krieg mitgebracht hatte. Edwards Vater selber war kein Fotograf. Und das Objektiv-? Wer weiß schon, wo dieses Objektiv aufgesammelt worden war? Aber Edward war schon als Teenager fasziniert von der Möglichkeit vielleicht Bilder aufzeichnen zu können. Und hatte sich mithilfe eines Buches „Wilson‘s Photographics“ eine eigene Kamera gebaut. Die funktionierte allerdings mehr schlecht als recht. So blieb das Hobby nicht hängen. Damals, als er als 14-Jähriger die Schule verlassen hatte und in Wisconsin bei der lokalen Eisenbahngesellschaft anheuerte, um Schienen zu verlegen, hatte er dann sowieso erstmal anderes im Sinn. Aber in Seattle da ging ihm dieses Objektiv und das, was er aus dem Buch gelernt hatte nicht mehr aus dem Kopf. Seattle war eine Stadt im Aufschwung. Neuer Reichtum durch die Eisenbahnverbindungen und den Goldrausch brachte die moderne Technik und den Fortschritt in die Stadt. Eine der großen Dinge der Zeit war die Fotografie. Am anderen Ende des Kontinents schickte sich zum Beispiel ein junger George Eastman gerade an mit Kodak eines der einflussreichsten Unternehmen der Menschheitsgeschichte zu gründen. Für Edward stand allerdings anderes in den Karten. Sein Vater hatte immer davon geträumt eine Ziegelbrennerei zu eröffnen. Und Edward ernährte die Familie hauptsächlich durch Fischerei. 15 Kilo konnte ein Lachs aus der Region werden. Damit konnte man eine Weile lang essen. Wenn er nicht fischte, übernahm er Hilfsarbeiten oder sammelte Beeren.
Sein Vater war seit zwei Jahren tot, aber Edward arbeitet sich Stück für Stück nach oben. Und seine Familie mit ihm. Es war ein schwerer Unfall, der diesen Plan zum Halten brachte. Ein Sturz verletzte ihn an der Wirbelsäule. Und über ein Jahr war der 22-Jährige energiegeladene gut aussehende Edward Curtis plötzlich an das Bett gefesselt. Für seine Familie war das eine Katastrophe. Aber die Siedler damals hielten zusammen. Die Einwohner in der Region kannten sich untereinander. Und so passieren in diesem Jahr zwei Dinge. Erstens Edward lernt seine zukünftige Frau kennen. Clara Phillips. Die 16-Jährige kommt ihn regelmäßig besuchen und hilft der Familie aus. Clara kommt von einer weitgereisten Familie. Sie war in Kanada, in Pennsylvania und war belesen. Edward war fasziniert. Er teilt seine Ideen mit ihr. Sie hört ihm zu. Bald geht sie in der Curtis-Familie ein und aus. Es ist einer dieser Besuche, bei denen sie in das Haus kommt und Edward vor einen seltsam aussehenden Kasten vorfindet. Sie lässt sich zeigen, was für ein Gerät das ist. Ein Mann auf der Durchreise Richtung Goldrausch Country hatte die Kamera aus Geldnot heraus verkauft. Und Edward hatte einem spontanen Impuls folgend die Ersparnisse der Familie auf den Kopf geschlagen. Als Edward dann kurz darauf über eine Anzeige in der Zeitung davon erfährt, dass ein Porträtfotograf in der Stadt in Seattle einen Partner sucht, beschließt er einen Kredit aufzunehmen und in diese Partnerschaft zu investieren. Er würde also umziehen. Und mit kaum Ahnung von der Fotografie alles auf diese Karte setzen. Seine Familie muss begeistert gewesen sein. Und dann gab es noch einen kleinen Skandal. Denn Clara erklärte ihrer Familie sie würde mit Edward in die Stadt ziehen. Und sie würden heiraten und dort zusammen wohnen. Das alles sozusagen in einem großen Rutsch.
Für Edward begann jetzt eine prägende Zeit. Er lernte das Fotografieren von der Pike auf. Es gab viele Menschen mit Geld in der Stadt. Und er war einer derjenigen, der wusste, wie man Menschen mit Geld in Porträts gut aussehen lassen konnte. Es dauerte nicht lang und aus dem partnerschaftlichen Porträtstudio wurde ein von ihm allein geführtes Porträtstudio. Er war eine Größe in der Stadt. Man kannte ihn. Und er hatte eine erste Karriere als Porträtfotograf. Bald wurde ein erstes, bald ein zweites Kind geboren. Die Rechnung war aufgegangen. Das Geld begann zu fließen.
Wer schon mal Fotos von Seattle gesehen hat oder vielleicht sogar dort schonmal zu Besuch gewesen war, der weiß vielleicht, dass im Umland von Seattle mehrere große aktive Vulkane stehen. Riesige Berge. Bilderbuchlandschaften. Mit Seen in denen sich eisbedeckte Gipfel spiegeln. Mit riesigen Wäldern. Mit Landschaften, die einfach zu schön sind um wahr zu sein. Es ist diese Umgebung, der die Liebe von Edward und Clara gehören. Der Gipfel, den man von Seattle aus sieht, gehört zu dem Vulkan Mt. Rainier. Auch heute noch ein atemberaubend schöner Nationalpark. Und Edward wandert dort so viel, dass er als professioneller Wanderguide tätig werden kann und Leute zum Gipfel und über die Gletscher führen kann. Wenn er nicht wandert fotografiert er. Porträts. Edward gehört einer Tradition an, die sich Pictorialism nennt. Das heißt, seine Porträts versuchen mit einem leicht verträumten Look künstlerisch auszusehen. Viele werden noch im Nassplattenverfahren gemacht. Aber es ist auch die Zeit der Dryplates. Also, fotografische Verfahren, wo man mit fertigen Medien anfangen kann. Und nicht erst immer alles vorbereiten und sofort entwickeln muss. Fotografen der damaligen Zeit waren nicht nur Auftragsarbeiter. Sondern meistens auch damit beschäftigt Kunstwerke zu schaffen oder Postkarten zu drucken. Alles, was ein Bild haben konnte, war im Prinzip mögliche Geldquelle. Und das war wahrscheinlich auch die hauptsächliche Motivation, die Curtis dazu brachte sich mit einem Seattler Original zu beschäftigen. Denn es gab innerhalb der Stadtgrenzen eine Frau, die da eigentlich gar nicht sein durfte. Gesetze hatten es verboten, Indianern Anwesen im Stadtgebiet zu verkaufen. Oder sie auch nur unter dem eigenen Dach übernachten zu lassen. Wer anreisen wollte, brauchte eine Genehmigung das Reservat zu verlassen. Und sich in der Stadt aufzuhalten, brauchte ebenfalls entsprechende Zustimmung. Allerdings gab es Ausnahmen. Wenige, aber akzeptierte Ausnahmen. Und eine solche Ausnahme galt für die Tochter von Chief Seattle höchst selbst. Sie war bekannt als Princess Angeline. Einen Namen, den ihr eine weiße Frau einmal gegeben hatte. Und der den Einheimischen leichter von der Zunge ging als ihr eigentlicher Name. Aufgewachsen als Tochter eines Fürsten, war die zur Zeit Edwards 90-Jährige geduldet und bettelarm. Sie lebte in einem Holzverschlag und verkaufte Muscheln an Touristen oder Einheimische, die sie selbst aus dem Schlamm ausgrub. Kinder machten Umwege nur um sie zu foppen und mit Steinen zu bewerfen. Wobei von Angeline überliefert wurde, dass sie dann ohne Weiteres auch mit Steinen zurückwarf und oft treffsicherer war als die Jungs. Touristen kamen in den Hafen nur, um auch mal einen Blick auf die Tochter des berühmten Indianerhäuptlings zu werfen. Und verschiedene Fotografen hatten Sie für Postkarten verewigt. Und das war auch das, was Curtis ursprünglich im Sinn hatte. Er ging an den Hafen und wollte sie fotografieren und bat sie für ihn Porträt zu sitzen. Einen Dollar würde er ihr dafür zahlen. Das war ein Tageslohn. Das war schon ordentliches Geld. So entstehen mehrere eindrucksvolle PortrÄts, die er auch in die Auslage hängt und für gutes Geld verkaufen kann. Er produziert außerdem besagte Postkarten. Aber irgendwie ist er unzufrieden. Er möchte mehr. Er möchte Angeline so zeigen, wie sie wirklich lebt. Und so fotografiert er sie auch noch beim Muschel-ausgraben und in verschiedenen anderen Situationen. Es sind seine ersten Fotos von amerikanischen Ureinwohnern. Und es werden nicht die letzten sein. Der Besuch eines Häuptlings in der Stadt zum Anlass eines Fußballspiels gibt ihm eine weitere Gelegenheit. Hier kommt noch dazu, dass Curtis sich mit dem Mann unterhält. Und damit erkennt, dass die offizielle Geschichtsschreibung, besonders in Bezug auf verschiedene Indianerstämme, nicht stimmen kann. Seine Porträts machen Wirbel. Er bekommt viel Anerkennung für die Qualität der Aufnahmen. Aber für die Geschichte, die ihm da begegnet, interessiert sich niemand. Es ist die Zeit, mit der Karl May jemand erfolgreiche Geschichten über amerikanische Ureinwohner veröffentlicht, der selber noch nie auch nur einen Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte, geschweige denn Amerikaner getroffen hatte. Und es ist dieses Bild, des romantischen Wilden, das man auch in Edwards Bildern wieder erkennt und mit dem er erfolgreiche Verkäufe tätigt. Aber je mehr er diese Menschen fotografiert. Je mehr Geschichten er hört. Desto nachdenklicher wird er. Er trägt seine Gedanken wieder und wieder Mt. Rainier hinauf. Während er sich nach und nach einen Namen als Fotograf nicht nur der großen Persönlichkeiten, sondern auch der Ureinwohner Amerikas machte. Er gewinnt Preise. In Seattle ist man stolz auf den Sohn der Stadt. Und dieser Ruf ist natürlich gut für das Geschäft.
1896 markiert dann das Jahr, in dem der Name Edward Curtis nicht nur in Seattle und Umgebung, sondern US weit bekannt wird. Und zwar nicht durch seine Fotografien. Sondern, weil er den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Expedition am Mt Rainier begegnet und ihnen aus einer Notlage hilft. Mitglied sind drei der berühmtesten Wissenschaftler der damaligen Zeit. Unter anderem ein bekannter Ethnologe. Und damit starten Freundschaften, die den ganzen weiteren Lebensweg von Edward Curtis bestimmen werden. Als Dank für seine Hilfe, laden sie ihn nämlich ein, der offizielle Fotograf einer Alaska-Expedition zu werden. Und das ist diese Expedition, bei der Edward Curtis seinen großen Plan fasst. Er erkennt nämlich, dass die verschiedenen Völker der Ureinwohner Amerikas am Sterben sind. Jedes Jahr, das verstreicht lässt weniger Stämme zurück. Und er erkennt, dass er ein Talent hat, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen und mit ihnen in Kontakt zu treten. Über 80 Stämme sind in Nordamerika bekannt. Manche nur noch wenige 100 Mitglieder stark. Andere haben mehrere 10000. Manche sind wohlbekannt in Indianerreservaten untergebracht. Andere muss man aufwändig finden. Es gibt nomadisch lebende Stämme und Völker, die seit Jahrtausenden im Gebirge in Steinhäusern wohnen. Aber zwei Dinge haben sie alle gemeinsam. Ihre Geschichtsschreibung existiert kaum. Die meisten Geschichten werden mündlich weiter gegeben. Und sie sterben aus.
Edward fasst einen Plan. Er will diese Stämme dokumentieren. Er will sie alle besuchen. Er will sich mit ihren Ältesten hinsetzen. Er will ihre Geschichte hören. Er will ihre Lieder aufzeichnen, ihre Rituale beobachten. Er will ihre Lebensweise porträtieren und die typischen Mitglieder ihrer Gesellschaften. Er will ihnen ein Denkmal setzen. Und er will viel weiter gehen, als in Anführungsstrichen nur zu porträtieren. Während seiner Expedition nach Alaska hat er ein nagelneues Gerät zur Aufzeichnung von Tönen kennengelernt. Eine Wachsrolle wird verwendet, um Aufnahmen zu machen. Außerdem steckt der Bewegt Film in den Kinderschuhen. Und auch damit beschäftigt sich Edward. Er stellt Assistenten an und hält seine Erlebnisse und Erkenntnisse schriftlich fest. Clara ist nicht eben begeistert. Edward ist zum Teil sechs bis acht Monate am Stück unterwegs und lässt den Betrieb des Studios in Seattle und die Verkäufe in den Händen seines Cousins und Claras. Für die Kinder ist er fast schon ein Fremder. Und seine Zeit daheim in Seattle verbringt er damit seine nächsten Touren zu planen. Schnell wird auch klar, dass er sich das nicht wird leisten können. Sämtliche Einnahmen und Ersparnisse gehen drauf für seine Privatexkursionen. Und so schreibt Edward an das Smithsonian Institute. Die Institution in den USA in denen die Ethnologie zu Hause ist. Der Ort, an dem, wenn überhaupt, offizielle Gelder zur Unterstützung fließen können. Er hat keinen Erfolg. Er hat keine akademischen Titel. Er kann keine Schulbildung vorweisen. Und so wird er praktisch aus den Büros gelacht. Man findet seine Porträts durchaus schön und bemerkenswert. Aber merkt an, dass sie ja doch sehr romantisierend wären. Und manche dieser Porträts auch ganz eindeutig gestellt währen. Außerdem ist sich Edward nicht zu schade auch mal Elemente, die nicht ins Bild passen, heraus zu retuschieren. Zum Beispiel eine Uhr, die mit in einem traditionellen Tipi steht oder Ähnliches. All das sorgt dafür, dass man ihn nicht ernst nimmt. Seine Freunde von der Mt. Rainier Expedition vermitteln ihn an einen anderen einflussreichen Unterstützer. An Theodore Roosevelt. Präsident der Vereinigten Staaten. Damals in der ersten Amtszeit. Teddy Roosevelt war nicht gerade bekannt als Freund der amerikanischen Ureinwohner. Allerdings hatte ihn das Amt des amerikanischen Präsidenten auch zum Präsident dieser Menschen gemacht. Und er nahm seine Verantwortung ernst. Und so bekommt Edward eine Einladung in das Winter White House des amerikanischen Präsidenten. Er soll seine Familie fotografieren. Und ein paar Tage da bleiben. Und als inzwischen anerkannter Experte für die amerikanischen Ureinwohner Völker wollte sich Theodore Roosevelt mit ihm über genau diese Menschen und wie man ihnen helfen könnte unterhalten. Es entstehen schöne PortrÄts. Die Gespräche sind inspirierend und anregend. Und am Ende des Aufenthalts schick ihn Theodore Roosevelt mit einem glühenden Empfehlungsschreiben los. Es ist unklar, ob das überhaupt hilfreich war. Denn was Edward eigentlich brauchte, war Geld. Und Geld gab es von reichen Mäzenen. Und die waren nicht gerade eben gut auf Theodore Roosevelt zu sprechen. Aber es öffnete andere Türen. Edward nutzte seine freie Zeit, um auf Tournee zu gehen. Er hält Vorträge im ganzen Land. Er dreht den ersten Dokumentationsfilm über amerikanische Ureinwohner und präsentiert die in Lichtbildschauen. Er sammelt dabei Unterstützer-Gelder ein und verkauft Bilder. Es ist aber schnell klar, dass nichts davon ausreichen wird, um ihn vom Bankrott zu schützen oder sein Projekt weiterzubetreiben. Er brauch einen reichen Geldgeber. Und der damals reichste Geldgeber, an den man sich wenden konnte war niemand anderes als J. P. Morgan.
Die Vereinigten Staaten hatten es damals innerhalb weniger Jahrzehnte von einer Agrarwirtschaft zur führenden Industrienation der Erde geschafft. Und das alles ohne eine Zentralbank. Die brauchten sie nämlich nicht, denn es gab eine Privatbank, die in ihrer Macht und Reichweite ähnlich groß war. Und das war die Bank von J. P. Morgan. Der hatte einen Großteil seines Vermögens durch das Eisenbahnmonopol gemacht. Und war auch sonst für die Gründung und Zusammenlegung einiger großer amerikanischer Namen verantwortlich. Zum Beispiel General Electric. Er war der reichste und einflussreichste Mann in seiner Zeit. Und zur Zeit Edward Curtis‘ war er damit beschäftigt das Schöne und Teure zu sammeln. Kunst und Frauen waren die zwei Dinge in die er neben dem Business noch investierte. Mehrmals hintereinander machte J. P. Morgan Schlagzeilen, weil er absolute Rekordpreise für Kunst hinlegte. Und besonders hatten es ihm da Bücher und Gemälde angetan. Und so landet Eward Curtis irgendwann in seiner Verzweiflung bei J. P. Morgan. Er hat ausgerechnet, dass er ungefähr 75000 Dollar brauchen würde und das ohne ein eigenes Gehalt zu beziehen, um seine Pläne umsetzen. Und J. P. Morgan war vermutlich der einzige, der diese Art von Finanzmitteln in so ein Projekt stecken wollen würde. Es kommt zu einem Treffen. Und zunächst ist J. P. Morgan wenig begeistert. Viele wollen von ihm Geld. Und es klingt auch nicht besonders interessant für ihn. Er hat keine besonders hohe Meinung von den amerikanischen Ureinwohnern. Und im Grunde kann er ja auch jeder Zeit Gemälde und Bilder von ihnen kaufen. Aber Edward lässt sich nicht beirren. Und er gewinnt ihn mit zwei Argumenten. Das eine Argument ist, die Schönheit der Bilder. Er zeigt ihm mehrere Bilder. Und es ist die Aufnahme eines jungen Mädchens, das J. P. Morgan dann überzeugt haben soll. Und das zweite ist der Gedanke, dass Edward Curtis J. P. Morgan ein Denkmal setzen wird. Indem er ihm ein 20-Bändiges Lexikon hochwertigster Machart Produzieren wird. Niemand wird J. P. Morgan Rassismus oder Benachteiligung amerikanischer Ureinwohner unterstellen können. Wenn er gleichzeitig so ein Vorgehen finanzieren würde, sagt Curtis. Und wenn er als Mäzen auftritt, wird das nicht nur ein Denkmal für den amerikanischen Ureinwohner, sondern auch gleichzeitig ein Denkmal für J. P. Morgan werden. Morgan stimmt schließlich zu. Aber unter mehreren Bedingungen denen Edward Curtis allesamt zustimmt. J. P. Morgan wird noch mehrmals Geld nachlegen müssen. 75000 Dollar waren hochgradig optimistisch. Aber in diesem einen Moment sah es zumindest so aus, als hätte Edward sein Ziel erreicht. Er stellt zum Teil bis zu 17 Leute an. Tourguides, Übersetzer, Assistenten. Und natürlich bezahlt er auch die Ureinwohner, die für ihn Modell sitzen. Und er rennt gegen die Zeit. 16 bis 18 Stunden Tage. Bei Regen, Wind und Wetter unter freiem Himmel. Waren die Stämme am Anfang noch skeptisch, was dieser weiße Fotograf von ihnen wollte, ist es bald so, dass die sich untereinander diesem Fotografen weiterempfehlen. Und so wird er von Ritual zu Ritual zu Anlass zu Anlass gereicht. An manchen Zeremonien ist er nicht nur als Fotograf, sondern auch als Teilnehmer zugegen. Daran ist besonders interessant, dass es auch zum Teil gegen das Gesetz verstößt, was Curtis hier macht. Denn in den USA des 19. Jahrhunderts ist den Ureinwohnern zum Teil per Gesetz verboten, ihre ureigenen religiösen Rituale durchzuführen. Das gehört zu den vielen Maßnahmen, die damals ergriffen wurden, um den Roten Mann zu zähmen.
Irgendwann hat Clara genug von dem ganzen Zirkus. Es ist wieder einmal eine dieser Phasen, in denen fast kein Geld mehr übrig ist. Und Curtis auf Tournee geht, um Menschen davon zu überzeugen, sein Projekt zu unterstützen. Als Clara die Scheidung einreicht. Wegen Vernachlässigung. Es kommt zu einem Rosenkrieg in dem sich die ganze Familie aufsplittet. Eines der Kinder Hält zu Clara. Das andere zu Edward. Das Gericht spricht Clara, die ja die ganze Zeit die Geschäfte in Seattle geleitet hatte, die Rechte an den dort gelagerten Negativen und die Einrichtung zu. Edward stürmt daraufhin zusammen mit seiner Tochter in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Räumlichkeiten und zerschlägt alle Glasnegative, um seine Frau daran zu hindern, damit weiter Geld zu verdienen. Curtis fängt an Bücher zu schreiben. Keine wissenschaftlichen Abhandlungen, sondern populärwissenschaftliche Bücher mit deren Verkäufen er hofft sein Projekt weiter zu finanzieren. Er versenkt über 75000 Dollar in einen Dokumentarfilm. Einen der ersten Dokumentarfilme überhaupt. Für den sich aber kaum Jemand interessiert. Und der deswegen zum finanziellen Totalschaden wird. Tief verschuldet und von seiner Frau getrennt zieht er nach LA und wird dort Kameramann für den Regisseur Cecil B. DeMille, der unte randerem Filme wie „Die Zehn Gebote“ gedreht hat. Auch muss er immer wieder an Filmen mitarbeiten, in denen die Stämme, die er studierte wahlweise als Wilde oder als romantisierte Edle dargestellt werden. Das muss sich unerträglich für den Mann angefühlt haben. Immer wenn er genug Geld beisammen hat, um wieder an seinem Projekt arbeiten zu können, macht er das. Ab 1921 ist er wieder unterwegs. Und stellt 1930 den letzten seiner 20-Bändigen Lexikon Reihe fertig. Das markiert das Ende eines über 30 Jahre dauernden Fotoprojekts. Über 280 Mal ist er quer durch die USA gereist. Legte dabei rund 400000 Meilen zurück. Machte über 40000 Aufnahmen. Studierte dabei mehr als 80 Stämme in den USA, Kanada und Alaska. Schrieb 350 Mythen und Legenden und die Grundlagen von 75 verschiedenen Sprachen auf. Von den zirka 10000 Musikstücken und Gesängen, die er aufgezeichet hat, weiß man heute noch von ungefähr 270, wo sie sich befinden. Das gesamte Projekt kostete über eineinhalb Millionen Dollar. Und er konnte mit den Verkäufen des Lexikons beginnen. Durch die Auflagen J. P. Morgans waren die Lexika fast 5000 Dollar teuer und damit ein absolutes Nischenprodukt. Und so wundert es auch nicht weiter, dass er weniger als 300 Exemplare davon verkaufen konnte. Außerdem hatte er die Rechte komplett an J.P. Morgan abgetreten. Das heißt, er übergab sämtlich Negative, alle Unterlagen und die fertigen Bücher J. P. Morgan zur weiteren Verwendung. Der lagerte den ganzen Kram ein. Und irgendwann mal verkaufte er alles für läppische 1000 Dollar an einen Buchhändler, der die Sachen dann seinerseits auch in einen Keller einlagerte.
1970 wurde dann dieser Keller ausgeräumt und man fand die ganzen Unterlagen. Und seit dem ist der Name Edward Curtis wieder ein Begriff. Manche seiner Aufzeichnungen widersprechen zum Teil noch heute geltende Lehrmeinungen. Und es ist ein schier grenzenloser Schatz an Erkenntnissen über Kulturen, die es heute nicht mehr gibt. Und die ohne Curtis‘ Arbeit einfach komplett verschwunden wären. Und er kombiniert in seiner Arbeit zwei sehr verschiedene Welten. Einerseits hat er sehr wohl fast schon wissenschaftlichen Anspruch. Er will exakt sein. Er will komplett beschreiben. Andererseits geht er besonders die Fotografie mit den Augen eines Künstlers an. Und ihm ist egal, welchen Status der Mensch vor seiner Kamera hat. Berühmtheiten wie der Apachen-Führer Geronimo oder Theodore Roosevelt sind genau so vor seiner Kamera festgehalten worden. Einfache Hirten, Medizinmänner, Frauen beim Wasserholen oder die Landschaften in denen die Stämme ihren Alltag verbrachten. Man kann viele seiner Fotos sehen, wenn man 20 Euro in ein Buch namens „The Nordamerican Indian“ vom Taschenbuchverlag investiert. Und manche der Bilder, die ich dort fand, waren mir so vertraut, dass ich hätte schwören können, dass ich sie schonmal irgendwo gesehen hatte. Und die Art und Weise, wie er gearbeitet hat, findet sich an anderen Stellen wieder. Edward Curtis war ein Pionier des Fotojournalismus, ein Pionier der ethnografischen Fotografie, ein Pionier der Porträtfotografie und hat 30 Jahre lang einzigartige Aufnahmen einer heute komplett verschwundenen Welt gemacht.
Nachdem er „The Northamerican Indian“ herausgebracht hat, kehrt er nach Los Angeles zurück. Er beteiligt sich auch jetzt wieder an einigen Hollywood Filmen und fasst den Plan noch ein weiteres dokumentarisches Projekt, nämlich eine Fotoserie über den Goldrausch, anzufangen. Hat aber weder die dazu notwendigen Mittel noch die Gesundheit, um das ernsthaft anzugehen. Am 19. Oktober 1952 stirbt er an einer Herzattacke. Dieselbe Todesursache, die Clara 20 Jahre zuvor das Leben gekostet hatte.
Edward Curtis war ein getriebener. In panischer Angst er könnte zu spät kommen, und weil er oft auch zu spät kam, reiste er kreuz und quer durch die USA und investierte sein gesamtes Vermögen und sein Privatleben in ein 30 Jahre dauerndes Projekt. Ich will es gar nicht Fotografieprojekt nennen. Auch, wenn die Fotografien das Eindrücklichste Ergebnis dieser Arbeit waren. In den 80 Jahren seines Lebens schlief er mehr unter freiem Himmel und in widrigen Wetterverhältnissen, als unter dem Dach eines Hauses. Er begann seine Reise in einem Amerika, das gerade mal bis an die Westküste vorgedrungen war. Und in dem die Erinnerungen an den Bürgerkrieg und an die Kriege mit den amerikanischen Ureinwohnern noch ganz frisch waren. Er stellte die wichtigsten Weichen seines Lebens in einer Zeit, da war Amerika gerade zur führenden Industrienation der Welt aufgestiegen. Und er beendete sein Projekt im Amerika der Moderne. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges. Er gewann die Unterstützung und zum Teil Freundschaft von Männern, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Theodore Roosevelt auf der einen, J. P. Morgan auf der anderen Seite. Er war einer der Pioniere des Dokumentarfilmes. Ohne es darauf anzulegen. Und seine Arbeit prägte, wie wir bis heute amerikanisch Ureinwohner sehen und was wir über sie wissen. Seine Arbeit sieht bis heute modern aus. Selbst, wenn sie mit der Technologie des letzten Jahrhunderts gemacht wurde.
Vielen Dank für dieses Portrait! Die Beschreibung seines Lebens und Schaffens ist sehr interessant gelungen und die Sammlung von Links und Videos ist Spitze!
Super Podcast – ich werde ihn sofort meinen Freunden weiter empfehlen!
Viele Grüße aus Braunschweig
Vielen Dank für das Lob, ich freue mich riesig dass Dir mein Podcast gefällt!