====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====
Angeblich posten rund 60% aller Nutzerinnen und Nutzer von Instagram regelmäßig Fotos von sich selbst, sogenannte Selfies.
Die bildliche Selbstdarstellung wurde natürlich nicht erst durch Social Media populär, tatsächlich haben schon die Maler des Mittelalters und der Renaissance gerne ihr eigenes Antlitz in ihre Arbeiten geschmuggelt und dann war es bald nur noch eine Frage der Zeit bis die ersten gezielten Selbstportraits gemalt wurden.
So wage ich in der heutigen Folge eine Reise von A wie Albrecht Dürer bis K wie Kardashian 🙂
Weitere Informationen:
- Robert Cornelius (Wikipedia)
- Daguerrotypie (Wikipedia)
- Joseph Nicéphore Niépce (Wikipedia)
- Das 2. Selfie kam von Hippolyte Bayard (Wikipedia)
- Reader’s Digest – 14 mind-blowing facts about selfies
- Das Ich als Kunstwerk: vom Selbstporträt zum Selfie
- Camera Obscura (Wikipedia)
- Daguerrotypes mit über 140,000 Megapixel (!)
- Australian man ‚invented the selfie‘
(Unter dieser Notiz sind keine Videos? Auf nach https://fotomenschen.net)
Transkript der Episode:
“Picture – or it didn’t happen”. Das ist ein Spruch, der Freunde dazu auffordern soll, einen Schnappschuss zu teilen. Wir leben in durch und durch visuellen Zeiten; Niemand wird bestreiten, dass es noch nie so wichtig war wie dieser Tage, eine Kamera in Griffweite zu haben. Zumindest scheinen wir das so wahrzunehmen. Wir fotografieren alles und jeden, und auch gerne Mal uns selbst. Das sogenannte “Selfie”, ja manch einer ruft sogar eine “Selfie Culture” aus, millionen und abermillionen Selfies werden regelmäßig auf den großen Social Media Kanälen veröffentlicht.
[Einspieler]
Hi, I’m Kim Kardashian West and I’m gonna give you a little tutorial on how to take the perfect selfie. If you don’t have a mirror in front of you to really figure out your pose and your angle, make sure that your lighting is amazing, because you wanna blow out everything you don’t wanna see and highlight all the good things that you do.
Moderne Smartphones haben sogar mehr als eine Kamera, eine extra zu dem Zweck um Selfies aufnehmen zu können. Die “front-facing-Camera”.
Das Wort “Selfie” wurde angeblich von einem Australier erfunden, der hat sich bei der Geburtstagsparty eines Freundes die Lichter ausgeschossen und anschließend aufs Gesicht gelegt. Das Internet, freilich, gab’s zu der Zeit schon und so machte er ein Foto, bei dem man die Lippe nicht scharf, dankenswerterweise aber im Hintergrund die Steckdose supergut erkennen kann, und schrieb dazu, dass es ihm leid täte, dass der Fokus falsch sitzt, es wäre ja nur ein Selfie. Und damit war das Wort in der Welt.
Damit stellt sich jetzt natürlich die Frage, was ist denn nun ein Selfie?
[Einspieler]
Hi, ich bins wieder, eure Jayjay, und ganz viele haben mich gefragt ob ich sagen kann was “Selfie” is, und weil ihr das alle nicht wisst sag ich euch das jetzt.
Äh ja. Jetzt mal wirklich:
[Einspieler]
Selfies sind Selbstportraits, die du mit einem Smartphone in deiner eigenen Hand aufnimmst, daher auch der Name “Selfie”, das kommt vom englischen “self portrait”.
Also ein Bild, dass ich selbst von mir anfertige. Und wenn wir es so generisch halten, dann ist natürlich das Selfie schon hunderte von Jahren alt. Schon in Mittelalter hatten Maler damit begonnen, ihre eigenen Gesichter gelegentlich in ihre Gemälde zu schmuggeln, da saß dann unter den Jüngern Jesu plötzlich mit der Maler am Tisch. Ab dem 15. Jahrhundert werden zunehmend auch Gemälde von Malern bekannt und es gibt mehrere, die sind berühmt geworden, dafür, dass sich die jeweiligen Künstler besonders treffend selbst dargestellt haben.
Und damit könnte man sagen: Die Renaissance-Maler sind die Urgroßväter moderner Selfies. Daran sollte man auf jeden Fall denken, wenn Man das nächste Mal mit der Frontkamera auf sich selbst abdrückt.
Wir können aber auch auf jeden Fall festhalten, dass die Definition “Selbstportrait” vielleicht nicht so ganz tragfähig ist, wenn wir über Selfies reden, wir reden ja schon über eine ganz bestimmte Art des Selbstportraits, nämlich fotografisch festgehaltene Selbstportraits, die dürfen auch zunehmend immer mehr verfremdet sein, im Zeitalter von Snapchat-Filtern kann man sich da künstliche Hüte aufsetzen, die Augen vergrößern, die Haut verjüngen, was immer uns einfällt, das heißt es muss auch noch nicht mal mehr fotografisch authentisch sein, aber wir reden ja schon von einem fotografischen Prozess. Niemand greift zu Pinsel und Leinwand, um sein Selfie zu malen und dann zu veröffentlichen, wir snappen es.
Und damit sind wir bei der Geschichte der Fotografie angekommen. Eine Geschichte, die eigentlich ziemlich kurz ist. 200 Jahre. Grob. 1820 – 1840 war die Geburtsstunde der modernen Fotografie.
Dieser große Zeitraum ist mit Absicht gewählt, weil es tatsächlich ein bisschen Definitionsfrage ist, was man denn nun als den Startpunkt der modernen Fotografie ansieht. Manches Prinzip, das auch heute immer noch Kameras verwenden, kannte man schon seit der Antike. Die sogenannte “Camera obscura”, also die “versteckte Kammer”, von der eben auch unsere heutige Kamera ihren Namen hat, war ein Raum oder zumindest eine Holzkiste, in die ausschließlich durch ein kleines Löchlein Licht drang. Und es war eben auch schon wirklich lange bekannt, dass sich durch dieses Loch Bilder projizieren auf die Rückwand besagter Kammer oder Kiste ließen. Allein dieses Bild war vorübergehend. Nur so lange wie genügend Licht und genügend Szenerie existierte, konnte man dieses Bild bewundern und bestaunen. Es gab solche Kameras auch begehbar. Manche wurden als Apparatur verwendet, um Pläne zu zeichnen oder die Perspektive von Gebäuden korrekt abzubilden, es war also ein Werkzeug im Künstlerbedarf.
Man hatte schon erkannt, dass es Chemikalien und Stoffe gab, die lichtempfindlich waren, und so musste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht irgendwie einen Weg finden könnte, ein Bild das in der Camera obscura sichtbar wird irgendwie auf einem dieser Stoffe festzuhalten.
In die Geschichte eingehen sollte dann der Franzose Joseph Niépce. 1826 gelang ihm das, was auch heute noch als die erste jemals durchgeführte und auch nach wie vor erhaltene Fotografie gilt. Acht Stunden lang belichtete er in einem Verfahren, dass er Heliographie nannte, eine lichtempfindliche Asphaltschicht, die hinterher mit Lavendelöl entwickelt wurde. Nicht nur wegen der langen Belichtungszeit war dieses Verfahren noch nicht so richtig praxistauglich, auch das Ergebnis muss man schon mit modernen Mitteln fassen, um wirklich zu erkennen, was man auf dem Bild festgehalten hatte. Trotzdem: Ein Anfang war gemacht.
Zu der Zeit stand Joseph Niépce mit einem Maler namens Louis Daguerre in Kontakt und tauschte sich über die Möglichkeiten, die Entwicklung eventuell kommerziell nutzbar zu machen aus. Daguerre übernahm die Methoden von Niépce und stellte eigene Forschungen an. Niépce starb 1833 und hat damit nie den späteren Durchbruch von Daguerre miterlebt.
Der entwickelte nämlich ein Verfahren, dass er dann ganz bescheiden “Daguerreotypie” nannte, und mit dem es möglich wurde, in wenigen Minuten hochdetailauflösende Bilder auf Silberplatten zu belichten. 1839 veröffentlichte er dieses Verfahren und die Rechte wurden auf die Initiative eines Physikers von der französischen Regierung erworben. Sie zahlten ab dann eine lebenslange Rente an Daguerre und an den Sohn von Niépce. Allerdings war es natürlich so, dass mit dem Namen Daguerreotypie Daguerre derjenige war, der als Urvater der Fotografie in die Geschichte einging. Und die hob jetzt so richtig ab.
Das Verfahren war für damalige Verhältnisse absolut revolutionär. Die Menschen konnten nicht glauben, was sie auf diesen Plättchen sehen konnten. Es war auch für heutige Verhältnisse hochauflösend, was damals abgeliefert wurde. Ordentliche Linsen vorausgesetzt konnte man Bilder erzeugen in diesem Verfahren, die mehrere hundert Megapixel groß wären, würde man sie heute scannen.
Wenige Jahre später wurden jedes Jahr mehrere millionen Daguerreotypien angefertigt und unter das Volk gebracht. Es begann eine Zeit, in der ein moderner Haushalt ohne Daguerreotypien nicht denkbar war. Die gabs auch in 3D. Es gab Leute, die Daguerreotypien in entsprechend verschobenen Ansichten fotografieren, sodass man die mit einer entsprechenden Vorrichtung dreidimensional betrachten konnte, natürlich, wie sollte es anders sein, auch gerne mal für pornografische Darstellungen benutzt.
Auch das, eine Technologie, die jetzt mit VR Brillen wieder zurück zu uns findet, war halt eben doch alles schon mal irgendwie da.
Die Daguerreotypie wurde jedenfalls ein Massenverfahren, und jetzt, jetzt ist es wieder an der Zeit, dass wir wieder zu unserem Selfie zurückkommen, denn, was es natürlich damit auch gab, war Fotografen, die das Verfahren perfektionierten und berühmt damit wurden.
Und damit sind wir bei einem weiteren Pionier der frühen Fotografie. Robert Cornelius. Er war der Sohn niederländischer Immigranten in die USA. Geboren 1809 in Philadelphia und besuchte eine private Schule. Besonders interessierte ihn damals die Chemie. 1831 begann er dann, für seinen Vater zu arbeiten und beschäftigte sich mit Versilberungen und dem Polieren von Metall und das machte er so gut, dass er kurz darauf von einem anderen Fotografiepionier, Joseph Saxton, beauftragt wurde, eine silberne Platte herzustellen, für eine Daguerreotypie, die die damalige central high school in Philadelphia in Auftrag gegeben hatte.
Und Robert Cornelius war hooked. Die Daguerreotypie bediente alles, wofür er sich begeistern konnte. Metallurgie, Chemie, und so beschloss er, seine Talente dafür einzusetzen, die Daguerreotypie zu perfektionieren und er eröffnete zwei der ersten Fotostudios überhaupt, um damit dann auch Bilder anzufertigen. Und natürlich konnte man super Landschaften und Gebäude fotografieren, aber wie viel schöner wäre es denn, wenn man Menschen fotografieren könnte.
Und so begann er, damit zu experimentieren, die Entwicklungs- und Belichtungszeit zu drücken und Apparaturen zusammenzustellen, mit denen man reproduzierbar Menschen fotografieren konnte. Damals waren die verschiedenen Materialien noch nicht so lichtempfindlich wie heute, das heißt, man brauchte entsprechend viel Beleuchtung, Portraits wurden also auch gerne mal draußen gemacht. Und so war das auch mit dem Bild, das er dann 1839 fotografierte.
Wer schon mal mit einer Großformatkamera hantiert hat, hat vermutlich auch eine ganz gute Vorstellung davon, wie das wohl ausgesehen haben muss. Robert Cornelius hat zunächst in seinem Heimstudio die Silberplatte vorbereitet, in einer Dunkelkammer, die musste nämlich behandelt und lichtempfindlich gemacht werden und dann lichtdicht in einem Magazin verstaut werden. Dann trug er die Camera obscura ins Freie, positionierte einen Stuhl davor und ließ vermutlich jemanden darauf sitzen, um in aller Ruhe die Szene komponieren zu können, also, die Kamera richtig auszurichten. Nun wurde das Magazin, das er vorbereitet hatte, in die Kamera eingelegt, also eingeschoben, und ab jetzt war alles aufnahmebereit. Aufnahmedauer wahrscheinlich c.a. 5-8 Minuten, das heißt Robert Cornelius konnte ganz gemütlich von der Kamera vorne den Deckel abnehmen, zu dem Stuhl gehen, sich hinsetzen, und musste dann für mehrere Minuten bewegungslos ausharren, bevor er wieder aufstand, zurückging und den Deckel wieder vor die Öffnung der Camera obscura anbrachte.
Und da war es nun. Der welterste Selfie. Ein junger Mann mit zerzaustem Haar, der unsicher und vielleicht ein bisschen neugierig in die Kamera blickt. Lächeln hat man auf damaligen Bildern nach Möglichkeit vermieden, denn wer kann schon ein Lächeln mehrere Minuten lang halten, ohne dass es irgendwann wie eine Grimasse aussieht, und so lächelt auch Robert nicht in diesem Bild.
Ich finds ja grad schon so ein bisschen passend, dass das erste Selfie der Geschichte ausgerechnet von einem Amerikaner geschossen sein soll. Ab da gab es dann jedenfalls kein Halten mehr. Portraits waren natürlich eine der Hauptanwendungen der neu perfektionierten Technologie und Robert Cornelius betrieb mehrere Jahre lang mehrere Fotostudios, bevor er sich wieder dem Geschäft seiner Familie, dem Verkaufen und Entwickeln von Gas- und Beleuchtungsmitteln eben, zuwandte. Wahrscheinlich, weil man damit dann doch noch ein bisschen mehr Geld verdienen konnte.
Es gibt übrigens noch einen anderen Selfie-Kandidat, der kurz danach einen, nennens wir mal, “Protestselfie” erstellt hat. Es war nämlich jemand, der von sich auch behauptete, die Technologie perfektioniert zu haben, Daguerreotypien herzustellen, der Franzose Hippolyte Bayard. Der hatte dann seine Verfahren der französischen Akademie der Wissenschaften angeboten und war abgelehnt worden, was er als derart große Schmach ansah, dass er ein Protestselfie aufnahm, ein Selfie, auf dem er sich als Ertrunkenen darstellte, und dieses Selfie dann mit einem Protest-Text versah und einschickte.
Naja, ein bisschen melodramatisch, der Mann, damit schlägt sich auch der Bogen zu den modernen Selfies. Die gehen ja auch von völlig banal bis zu überdramatisiert. Von alltäglich zu künstlerisch. Die alltäglichen Selfies, die wir alle machen, vielleicht manchmal noch in Kombination mit den Selfies, die Celebrities machen, von denen mehrere absoluten Kult- und Berühmtheitsstatus erreicht haben. Kim Kardashian hat so viele Selfies von sich angefertigt, dass sie irgendwann sogar ein Buch anfertigte, statt einer Biografie nur mit ihren Selfies ausgekleidet, und damit die Bestsellerliste der New York Times eroberte.
Aber es gibt natürlich auch ernsthafte Selfie-Kandidaten. Andy Warhol hat eine ganze Menge Selfies gemacht. Der Künstler IYY hat Selfies von sich veröffentlicht. Und die Fotografin Cindy Sherman erkundet mithilfe des Selfies nicht nur alternative Identitäten, sondern auch ihr persönlichstes Innerstes. Überhaupt gibt es Künstler, die behaupten, das Selfie wäre sozusagen die hohe Kunst der Portraitfotografie, denn anders als bei der herkömmlichen Portraitfotografie hat der Fotograf beim Selfie ja wirklich intimes Wissen, intimstes Wissen über das Model.
Und trotzdem sind Selfies nicht jedermanns Sache. Es gibt zwar eine riesige Zahl Menschen, die sich gerne selbst fotografieren, aber längst nicht jeder mag den Selfie-Trend. Und auch wenn es uns nicht so vorkommen mag, nicht jedes Bild da draußen ist ein Selfie. Insgesamt sind tatsächlich nur 4 % der auf Instagram veröffentlichten Bilder Selfies. Der Rest teilt sich dann auf Gebäude, Urlaubsszenen, irgendwelche Gruppenfotos, Essen und was sonst noch an sujet existiert auf, jedenfalls sind wir dann doch nicht so egozentrisch, wie man meinen möchte, wenn man Kim Kardashian und co. als Maßstab annimmt.
Und wenig überraschend ist es dann auch noch so, dass es Unterschiede zwischen den Generationen und den Kulturen gibt. Eine interessante Statistik, die ich gefunden habe, stammt von der Zeitschrift “Time”, die 2014 den Hashtag #Selfie auf Instagram analysierte, und eine Rangliste erarbeitete, in welchen Städten denn die meisten Selfies geschossen würden. Kenngröße war Selfies pro 100.000 Einwohner. Was ich ganz interessant fand war, dass Makati City und New York die zwei Städte mit den meisten Selfies waren, aber in den Top 100 keine einzige deutsche Stadt vorkam. Und schon die Italiener und Franzosen musste man in der Liste echt suchen.
Egal wie, wir stehen auf den Schultern von Giganten. Das nächste Mal, wenn wir unser Handy hochreißen, um ein Selfie von uns zu fotografieren, einfach kurz innehalten und daran denken, dass wir in einer Linie zu Albrecht Dürer stehen. Oder zu Kim Kardashian. Je nachdem, wie man die Sache nun auslegen möchte.
Bild: By Robert Cornelius – This image is available from the United States Library of Congress’s Prints and Photographs divisionunder the digital ID cph.3f04912.This tag does not indicate the copyright status of the attached work. A normal copyright tag is still required. See Commons:Licensing for more information., Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6350177
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