29. November 2021

Jahrzehnte fotografieren

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Es gibt Projekte die erstrecken sich über mehrere Dekaden, diese Folge stellt drei dieser Projekte vor.


Transkript

Wir denken nicht oft daran, aber Fotografie kann nicht nur den winzig kleinen Augenblick einfangen, sondern auch lange Zeiträume. Besonders, wenn es sich um ein Fotoritual handelt, also ein regelmäßig wiederkehrendes Foto, das wir machen. Es gibt ja sogar Apps, die uns darin unterstützen jeden Tag ein Selfie zu machen.

Aber schon lange bevor wir die Kamera hauptsächlich auf uns selber gerichtet haben, gab es natürlich auch schon Fotografinnen und Fotografen, die zum Teil über Jahrzehnte hinweg immer wieder dasselbe Motiv festhielten.

Es gibt natürlich viele Fotografen und Fotografinnen, die über Jahrzehnte hinweg fotografieren. Natürlich gibt es auch große Fotoprojekte, die wirklich lange laufen. Wirklich spannend finde ich aber ganz besonders die Projekte, die eigentlich versuchen, der Zeit beim Vergehen zuzusehen.

Am ehesten begegnet uns das tatsächlich noch bei lang-laufenden Portraitserien großer Politiker. So kam jetzt, passend zum Ende der Amtszeit Angela Merkels, ein Portraitband heraus, in dem Herlinde Koelbl von 1991 bis 2021 gesammelte Portraits von Angela Merkel zusammengefasst hatte. In solchen Portraitreihen glauben wir dann natürlich auch die Last der Macht zu erkennen, wir sehen die Person auf dem Bild älter und älter werden. Grübchen und Furchen, die eigentlich schon immer da waren, vertiefen sich, neue kommen hinzu. Und es ist ein wirklich faszinierender Blick.

Eine der berühmtesten Langzeit-Portraitserien, die es derzeit gibt, die auch immer noch läuft ist das Projekt:“The Brown Sisters“. Es ist das bekannteste Projekt des Fotografen Nicholas Nixon. Seit 1975 verabreden sich nämlich jedes Jahr er, seine Frau und deren drei Schwestern zu einer Portraitsitzung. Das alles fing ursprünglich mal als eine spontane Idee am Rande einer Familienfeier an. Nixon hatte seine Großformatkamera da und schlug vor doch ein Portrait der vier Schwestern zu machen. Die Jüngste war damals noch ein Teenager, die Älteste Mitte 20. Und er stellte sie auf und fotografierte sie.

Und wären sie dieses Foto machten, kam die Idee auf, vielleicht einfach jedes Jahr wieder eine neue Version dieser Aufnahmen zu machen. Regeln waren schnell gefunden: Sie würden immer in derselben Reihenfolge stehen, sie würden sich treffen, egal wie sie zu dem Zeitpunkt zueinander stehen würden. Mehrere Fotos sollten gemacht werden und Nicholas Nixon würde jedes Mal das seiner Meinung nach beste Bild auswählen, das würde dann das kanonische Foto von dem jeweiligen Jahr werden.

1975, ich nehme das ja gerade im November 2021 auf und zu dem Zeitpunkt sind es immerhin schon 46 Jahre, die dieses Projekt jedes Jahr erweitert wurde. Und es ist spannend sich diese Portraitreihe anzuschauen. Man kann sehen, wie die vier Frauen sich mal näher, mal weniger nah zu sein scheinen. Man meint Charakter wahrnehmen zu können, unterschiedliche Stimmungen. Spielt man diese Bilder wie in einem Video hintereinander ab, kann man den vier Frauen natürlich in Zeitraffer beim Altern zusehen.

Offen ist momentan noch, wann das Projekt enden wird. Wird es enden, wenn eine der Schwestern stirbt? Wird es enden, wenn die letzte Schwester stirbt? Wird es enden, wenn der Fotograf stirbt? Oder wird es enden, weil irgendwann doch keiner mehr Lust hat das Projekt weiterzuführen. All diese Fragen sind offen, aber seit bestimmt schon 15 Jahren tourt das Projekt immer wieder durch verschiedene Ausstellungen und ist zum Beispiel fester Bestandteil der Sammlung der Pinakothek der Moderne in München.

Die hatten erst dieses Jahr wieder eine aktualisierte Version dieser Bildreihe ausgestellt, inklusive dem Foto von 2020. Wie es sich für das Corona Jahr gehörte da mit 4 Screenshots, vier Schwestern, wie sie in eine Computerkamera schauen.

Spannend ist auch, dass praktisch nichts über die vier Frauen bekannt ist. Es geht nicht um die Biografie der Frauen, es geht nicht darum, was sie beruflich machen. Wir erfahren Namen und grobes Alter. Recherchiert man etwas findet man raus, dass Bebe, die Frau von Nicholas Nixon, eine Sozialarbeiterin in einer Krebsstation in Boston ist.

Menschen, die mit dem Tod ringen gehören, also gewissermaßen zu seinem und ihrem Alltag und spiegeln sich auch in der restlichen Arbeit von Nicholas Nixon wider.

Gerade andere Arbeiten, wo er beispielsweise Menschen mit Aids fotografiert oder Fotos von Krebskranken am Ende ihres Lebens macht. Es ist das Vergehen der Zeit, der besondere Moment auf den alles zusteuert der ihn interessiert. Er selbst sagt in Interviews er selbst ist inzwischen in einem Alter, und das Projekt ist in einem Alter, indem er das Ende fast schon sehen kann, irgendwann wird jetzt dann mal der Moment kommen, indem die Frage auftaucht, wie das Projekt weitergehen soll.

Thematisch etwas anders gelagert ist dann noch ein drittes Langzeitprojekt, das ich für heute mitgebracht habe. Es ist ein Projekt, das zum Fotobestand des Museums Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin gehört und ein wirklich ganz besonderer Schatz dieses Museum ist. Wie bei den Brown Sister weiß man auch hier über die Menschen auf den Fotos dieser Bildersammlung reichlich wenig. Alles fing mit dem Plan für eine Weihnachtsfotoausstellung an, das Museum wollte gerne zeigen, wie die Deutschen Weihnachten gefeiert haben über die Jahrzehnte hinweg.

Und so wurde ein Ausruf veröffentlicht, mit der Bitte, man möge doch private Fotosammlungen einreichen. Die Berliner sammelten also und es kamen viele Fotos zusammen, aber auch ein ganz besonderer Schatz. Eine Sammlung von knapp 250 Fotos nämlich, sie zeigen das Ehepaar Anna und Richard Wagner, er Bahnbearbeiter, sie Hausfrau. Und Richard Wagner war begeisterter Fotoamateur, er besaß eine relativ teure Kamera, mit der man sogar dreidimensionale Bilder, sog. Stereoskopien aufnehmen konnte. Und er nutzte diese Kamera, um Urlaube, Ausflüge, aber ganz besonders wichtig, jedes Jahr das Weihnachtsfest zu dokumentieren. Und es sind diese jährlichen Fotos des Weihnachtsfestes, die als Ausstellung inzwischen um die ganze Welt gereist sind. Das Projekt setzt im Jahr 1900 ein, damals wohnen die Wagner als unvermähltes Ehepaar in Essen und posieren 1900 zum ersten Mal für ein mit Selbstauslöser produzierten Schnappschuss vor dem Weihnachtsbaum. Die Hauskatze Mietz ist auch dabei und ein Gruß wird unter das Foto geschrieben und an die Verwandtschaft geschickt.

Besonders am Anfang sind die Wagners auch noch recht verspielt, da werden Szenen nachgestellt, wie zum Beispiel Richard auf Zehenspitzen in die Stube schleicht, während Anna mit einem Nudelholz auf ihren Ehemann wartet. Oder die gutmütige Mietz hält als Model her. Irgendwann ziehen die Wagners nach Berlin und Richard scheint erfolgreich zu sein, die Geschenke werden teurer, die Ausstattung in der Wohnung wird gediegener.

Auch die Geschichte lässt sich an den Fotos ablesen. Anfangs hängt noch ein Portrait von Kaiser Wilhelm 2. in der Wohnung. Zu Beginn des 1. Weltkriegs ist auf dem Gartentisch unter anderem eine Karte der Truppenbewegungen. Man ist also anfangs auch, typisch für die damalige Zeit, euphorisch mit bei der Sache. Die Begeisterung dürfte sich dann allerdings bald gelegt haben, 1917 posiert das Ehepaar mit dicken Wintermänteln. Es ist Kohlemangel in Europa und die Menschen frieren. Auch die Geschenke, die nach und nach auftauchen sind spannend, so gibt es zum Beispiel 1927 für die Frau des Hauses einen Staubsauger und am Baum brennen zum ersten Mal keine Wachskerzen, sondern elektrische Kerzen. Irgendwann ist dann natürlich auch der Eintritt in den Zweiten Weltkrieg und hier kann man natürlich dann zusehen wie die Umstände an dem Ehepaar nagen, besonders Anna nimmt rapide ab. 1942 gibt es dann das letzte Weihnachtsbild, Anna sieht dort schon sehr mager aus, sie stirbt dann drei Jahre später im Alter von 71 an Unterernährung, ihr Mann Richard folgt ihr dann 5 Jahre später im Alter von 77.

All diese drei Projekte haben gemeinsam, dass wir die Menschen, die sie zeigen nach und nach kennenlernen dürfen. Wir dürfen ihnen über die Jahre hinweg folgen, wir können dabei zusehen, wie die Zeit sich in ihre Gesichter eingräbt. Wenn wir wie bei den Weihnachtsfotos der Familie Wagner auch noch eine Umgebung, die im Wesentlichen immer dieselbe ist, sehen, dann werden die Unterschiede besonders auffällig. Was liegt unter dem Weihnachtsbaum? Wie groß ist der Weihnachtsbaum? Was haben die Wagners an? Sind sie verspielt und stellen eine Szene nach oder sitzen sie formell für das Foto? Oder bei den Browns ist das eben, da beobachten wir nicht nur den Verlauf der Zeit in den Gesichtern, sondern wir dürfen auch noch dabei zusehen, wie die Personen zueinander stehen: Näher, weiter, schauen sie sich an oder schauen sie weg.

Oder wir studieren eine Person wie Angela Merkel, bei der wir natürlich darüber nachdenken können, wie die Ereignisse, die wir ja alle kennen, jeweils in diesen Bildern zu sehen sind. Wie hält sie sich? Sieht sie nachdenklich aus?

Wenn wir solche Bildserien studieren denken wir immer auch über uns selber nach, wir studieren wie sich die Personen auf den Fotos verändern, wie sich die Umgebung der Fotos verändert und fragen uns welche dieser Veränderungen man in ähnlichen Fotoserien bei uns eigentlich auch sehen könnte.

7 Responses

  1. Stef sagt:

    Danke Dirk, für die nachvollziehbare Antwort.

  2. Marcus Maier sagt:

    Hallo Dirk,
    ich wollte dir nur mal sagen, dass ich deinen (diesen) Podcast massiv feiere.
    Jede Woche bin ich auf’s neue gespannt welchen Aspekt aus der Welt der Fotografie du wohl wieder beleuchten wirst.
    Viele Themen kannte ich nicht, hatte jedoch diebisch Freude daran mich in darin einzulesen.

    Danke für deine Mühen!

    Bitte mach weiter so.
    Danke und Gruss,
    Marcus

    P.S.: Ich empfehle dich fleißig weiter.

  3. Klaus sagt:

    Auch mir ist es ein Anliegen, mich für die informativen und unterhaltsamen Folgen zu bedanken. Danke Dirk! Es begeistert mich wenn jemand etwas tut wofür er richtig brennt. Heutzutage verfolgen viele mehr oder weniger offensichtlich kommerzielle Interessen. Ich empfehle die aus tiefer Überzeugung weiter und hoffe dein Feuer brennt noch recht lange. Grüße Klaus

  4. minilancelot sagt:

    Hallo Dirk,

    diese Folge habe ich wieder sehr gefeiert. Aber natürlich auch die anderen. Da fiel mir aber auch sofort jemand anderes ein, der das mit seinen Kindern gemacht hat von 0-20 Jahre. Hier die Links…

    https://www.youtube.com/watch?v=yfqpqiTMUEg
    https://www.youtube.com/watch?v=IhYElAlrnnc

    Auch sehr schön zum anschauen…

    Viele Grüße
    minilancelot

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