4. Juli 2022

Fakt trifft Fiktion – The Book of Veles

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Eine wahre Geschichte über eine Fake Reportage über einen echten Ort aber mit Fake Akteuren und einem aus echten Texten generierten Fake Essay…


Transkript

Als sich der Norweger Jonas Bendix 1996 mit gerade mal 19 Jahren bei der Londoner Niederlassung
der Fotoagentur Magnum um eine Praktikumsstelle bewarb, rechnete er wahrscheinlich nicht damit,
später einmal selbst zu diesem erlauchten Fotoklub zu gehören.
Und er hätte es wahrscheinlich auch nicht für möglich gehalten, dass ausgerechnet
er es sein würde, der diesen Tempel des Fotojournalismus mit einer von vorne bis hinten zusammengefakten
Fotostory testen würde.
Foto Menschen
Für die heutige Geschichte gehen wir ins Jahr 2017.
In den USA regiert Donald J.
Trump als 45.
Präsident der Vereinigten Staaten.
Und worüber regt er sich am meisten auf?
Genau, über das hier.
Natürlich in seinem Fall war alles Fake News, was ihn kritisierte oder ihm nicht zustimmte.
Aber allgemein an Fake News mangelte es jetzt in der Zeit wirklich gar nicht.
Es fiel genau in Trumps Amtszeit, dass die Welt zusehen musste, wie die Produktion und
Verbreitung von Falschmeldungen geradezu industrielle Ausmaße annahmen.
Die Masche war dabei denkbar einfach.
Man nahm echte Nachrichten von echten Nachrichtenwebsiten, verkürzte die, schrieb die zum Teil um, packte
irgendwelche zufällig ausgewählten Fotos dazu, klatschte das Ganze auf eine Webseite
mit ähnlichem Design und verteilte Links auf diese Meldungen im Internet.
Je besser die Meldungen ausgewählt waren und den Nerv der sowieso schon aufgeregten
Twitter- und Facebook-Community trafen, umso mehr Besucher kamen vorbei, umso mehr Werbeeinnahmen
ließen sich erzielen, umso mehr wurden diese Meldungen weiterverbreitet.
Oftmals mit viel mehr Reichweite als die Originalmeldungen.
Als man versuchte herauszufinden, woher diese Seiten überwiegend kamen, kristallisierte
sich ein überraschendes Epizentrum heraus.
Die Stadt Veles in Nordmazedonien.
In der osteuropäischen Stadt hatten sich anscheinend gleich mehrere Gruppen dazu entschlossen,
das lukrative Feld der Fake-News-Verteilung für sich zu beackern.
Und Jonas Bendixen verfolgt mit einiger Faszination die Artikel, die über diese Stadt geschrieben
werden.
Sogar Obama erwähnte die Stadt.
Da sitzen ein paar Teenager in Nordmazedonien, in einer Stadt, in der es nicht viel anderes
zu tun gibt, als sich im Internet nach Einkommensquellen umzuschauen und beschließen, Artikel zu veröffentlichen
und Werbeeinnahmen zu generieren, und sind plötzlich ein Thema für die amerikanische
Politprominenz und zwingen die großen Tech-Konzerne, ihre Vorgehensweise zu ändern.
Das wiederum fasziniert Jonas Bendixen.
Und der beginnt zu recherchieren.
Und wie das so oft ist, wenn man erstmal anfängt, einer Geschichte hinterher zu recherchieren,
dann wird das Internet auch schnell mal zum Rabbit Hole.
Im Falle der Stadt Veles entdeckt Jonas, dass es eine „slawische Gottheit“ desselben
Namens gibt.
Und das ist nicht irgendein Gott, das ist einer der wichtigsten Götter der slawischen
Mythologie.
Er ist Gott der Fruchtbarkeit und der Magie, Herrscher über das Totenreich, Gott der Erde
und wird als gehörnte und bärtige Schlange dargestellt.
Außerdem, und das war jetzt der Teil, der Bendixen faszinierte, war es auch der Gott
des Chaos und der Täuschung.
Er konnte seine Gestalt verändern und spielte eine ganz ähnliche Rolle, die man von dem
nordischen Gott Loki kennt.
Wir haben also eine Stadt, in der Fake News verbreitet wird, mit dem Namen eines Gottes,
dessen Mythologie zu nennenswerten Teilen daraus besteht, dass er Leute täuscht.
Jonas Bendixen recherchiert weiter und er entdeckt Berichte von einem antiken Manuskript,
in dem die Geschichte des Gottes Veles aufgezeichnet worden sein soll.
Sie wird 1919 von einem russischen Armeeoffizier entdeckt, der das aber weder lesen noch übersetzen
kann und sich deswegen an einen russischen Wissenschaftler wendet, der den kompletten
Text ins moderne Russische überträgt.
Bis heute glauben viele, dass dieser Text einer der ältesten Texte der slawischen Welt
überhaupt ist und besonders in Esoteriker-Kreisen oder auch in slawisch-nationalistischen Kreisen
ist der Text praktisch heilig.
Gäbe es da nicht dieses kleine Problem, dass der Stand der modernen Forschung davon ausgeht,
dass der komplette Text von dem russischen Wissenschaftler und dem russischen Offizier
gefälscht worden war?
1973 wird das Ganze von einem Studenten der Ohio State University übersetzt.
Der hatte von den Zweifeln an dem Text damals noch keine Kenntnis und nahm das alles ernst.
Als seine Übersetzung herauskam, war die durchzogen mit Fußnoten und Hinweisen auf
die Relevanz des Textes.
Der Student hatte alle möglichen Querverbindungen entdeckt und ihm war nicht aufgefallen, dass
der Text eigentlich eine Fälschung war.
Der Gott der Täuschung, eine Stadt, die Fake News produziert, ein gefälschtes Manuskript
eines angeblich antiken Textes, das für bare Münze genommen wurde.
Jonas Benediktsen beschloss, daraus ein Fotoprojekt zu machen.
Wie lange, fragte er sich, wird es wohl dauern, bis fotojournalistische Projekte auftauchen,
die keine Grundlage in der Realität haben?
Wir leben im Zeitalter von Deepfakes und computergenerierten Grafiken.
Und so beschließt er, genau diese fotojournalistische Arbeit zu machen und zu testen, wie lange
es denn dauern wird, bis jemand Verdacht schöpft.
Jonas Benediktsen ist Fotograf und kein CGI-Artist, also musste er sich Kenntnisse aneignen.
Er wollte wissen, wie kann er denn fotorealistisch computergenerierte Grafiken in eine fotografische
Szene montieren?
Wo lernt man sowas am besten?
Klar, auf YouTube.
Er schaute Tutorials für Software, die die Filmindustrie oder die Computerspieleindustrie
jeden Tag verwenden und experimentierte mit ersten Bildern.
Für diese Software gibt es meistens Online-Marktplätze, auf denen man Modelle kaufen kann.
Und so kaufte er Modelle für Menschen und verbrachte so einiges an Zeit damit, die anzupassen
und zu kleiden.
In einem Interview sagt er scherzhaft, er hat sich deutlich mehr Zeit mit der Kleidung
seiner Avatare für sein Foto-Projekt beschäftigt, als er jemals in seine eigene Kleidung investiert
hat.
Als nächstes dann buchte er Flüge nach Veles.
Er wollte eine glaubwürdige Fotoreportage über diesen Ort fertigen und deswegen beschloss
er, dass die Hintergründe tatsächlich aus Veles sein müssten.
Zum ersten Mal in seiner Laufbahn als Fotograf kam es ihm beim Fotografieren eben gerade nicht
drauf an, Menschen anzutreffen.
Aber er wollte eine Optik erzeugen, die aussah, als hätte er eines seiner typischen Projekte
gemacht.
Als hätte er einigermaßen ordentlichen Zugang und ein paar Wochen Zeit gehabt und sich wirklich
den Menschen vor Ort genähert.
Er machte zwei solche Trips, den letzten gerade mal eine Woche, bevor es weltweit zu Lockdowns
wegen dem Coronavirus kam.
Ja und jetzt, daheim, hat er alle Zeit der Welt, um sein Projekt fertig zu machen.
Sein nächster Schritt, aus diesem Fotomaterial wollte er ein Buch fertigen.
Und in einem Buch, da muss natürlich auch Text stehen.
Und auch hier wählt er einen ungewöhnlichen Weg.
Er findet online ein frei trainierbares System zur Generierung von Text.
Die Idee solcher Systeme ist, dass man ihnen Trainingsmaterial gibt, das dem angestrebten
Zieltext entspricht.
Will ich also Produktbeschreibungen haben, müssen Produktbeschreibungen rein.
Will ich Gedichte haben, die wie Shakespeare klingen, naja, dann füttern wir doch mal Shakespeare.
Jonas Bendixen nimmt jetzt die Artikel, die über Veles weltweit geschrieben worden waren
und führt sie diesem Bot zu.
Um denen dann einen Text für das Buch über Veles verfassen zu lassen.
Auf die Art erzeugt er einen 5000 Worte langen Essay, den er nur aus den Ausgaben dieses
Bots zusammen kopiert.
Ganz ähnlich geht er vor, um Zitate für die angeblich in seinen Fotos zu sehenden
Leute zu erzeugen.
Es gab ja eine Menge echter Zitate aus den anderen Artikeln und die wirft er ebenfalls
in die AI und lässt sich neue Zitate erzeugen.
All das kombiniert er und lässt es aussehen, als wäre es eine authentische Jonas Bendixen
Arbeit und produziert ein Buch.
Der Titel „The Book of Veles“, derselbe Titel, den das angebliche Manuskript trug.
Dabei geht er davon aus, dass es garantiert nicht lang dauern wird, bis die Ungereimtheiten
in seinen Bildern auftauchen werden.
Es ist ja nicht so, dass er nicht genügend Hinweise in seinen Bildern versteckt hätte.
Beispielsweise scheint die Stadt Veles eine ungewöhnlich hohe Bärenpopulation zu haben.
Und der Bär tauchte da auch nicht von ungefähr auf, denn der Bär war die Lieblingsgestalt
des Gottes Veles, des Gottes der Täuschung.
Aber selbst wenn einem der Bär entgangen war, gab es noch genügend andere Hinweise,
die Jonas zuversichtlich machten, dass dieses Buch den Test der Profis nicht lange würde
standhalten können.
Für den Fall der Fälle hatte er seinen Verleger auf jeden Fall schon mal informiert und er
hat sich selber als Regel gesetzt, die Presse daran zu hindern, seine Arbeiten zu veröffentlichen.
Er wartete und wartete, amüsierte sich über Komplimente für den Essay in dem Buch, lehnte
Anfragen der Presse ab und beschloss dann, noch einen draufzulegen.
Er reichte seine Arbeit bei dem angesehenen Fotojournalismus-Festival Visar pour Limage
in Frankreich ein.
Und die akzeptierten die Arbeit nicht nur, sondern baten ihn, im Programm einen Vortrag
über seine Arbeit zu halten.
Als weitere Wochen ins Land zogen, ohne dass irgendjemand seine Arbeit ernsthaft in Frage
stellte, beschloss er, selbst an seinem Ruf zu sägen.
Aber passend zu dem Projekt konnte er das natürlich nicht einfach selbst veröffentlichen.
Er wollte demontiert werden.
Und so kaufte er sich einen künstlich gealterten Social Media Avatar.
Für ca.
40 Dollar, sagt er.
Eine junge Dame, die angeblich aus Nordmazedonien stammte, mit dem klangvollen Namen Chloe Miskin.
Sie hatte eine Twitter Präsenz, ein Facebook-Profil.
Alles was ihr fehlte, waren die richtigen Kontakte.
Und an denen begann Jonas jetzt für ein paar Wochen zu arbeiten.
Nicht lange und Chloe war mit über 600 Leuten aus der fotojournalistischen Szene befreundet.
Der Plan?
Chloe sollte ihn demontieren.
Der richtige Zeitpunkt?
Kurz nach seinem Vortrag auf dem Festival.
Er hielt also seinen Vortrag und kurz darauf fing Chloe an, sich über die Qualität seiner
Arbeit aufzuregen.
Er hätte Leute gekauft, die in den Bildern zu sehen waren, schrieb sie auf Facebook.
Jonas ging davon aus, dass wenn jemand erstmal anfängt, öffentlich Zweifel zu äußern,
schon irgendjemand die Arbeit genauer unter die Lupe nehmen würde.
Umso erstaunlicher, dass Chloe nicht ernst genommen wurde und sich sogar einzelne damit
Beschäftigten Chloe zu widersprechen und mit ihr zu streiten.
Vielleicht ist Facebook nicht das richtige Social Network, denkt sich Jonas und lässt
Chloe auf Twitter los.
Und endlich steigt jemand auf den Verdacht ein.
Ein Twitter Nutzer bemerkt, dass Kleidung in den Fotos anscheinend mehrfach verwendet
wurde.
Und diesem ersten Verdacht folgen da natürlich andere und bieten Jonas damit endlich die
Möglichkeit, offen über sein Projekt und die wahren Hintergründe zu sprechen.
Monate nach Veröffentlichung.
Was machen wir jetzt aus dieser ganzen Geschichte?
Ich find’s spannend festzustellen, dass die Menschen zwar einerseits aufgewachsen sind
mit dem Wissen darum, dass es Photoshop gibt und dass Fotos nicht immer das zeigen, was
sie vorgeben zu zeigen.
Und gleichzeitig wollen wir immer noch auf Teufel komm raus glauben, dass Bilder die
Wahrheit und die Realität zeigen.
Es ist irgendwie auch tragisch, dass wir in über 180 Jahren Fotogeschichte immer noch
nicht gelernt haben, zwischen Fakt und Fiktion zu unterscheiden.
Und dabei sind wir ja jetzt am Anfang einer nicht aufzuhaltenen Entwicklung.
Jonas Bendixen hat uns vor Augen geführt, wie einfach es eigentlich ist.
Denn er ist weder Computerspezialist noch Computergrafik-Nerd.
Er hat sich mit Hilfe von YouTube ein paar frei erhältliche Softwareprodukte erklären
lassen und danach Bilder produziert, die die weltweite Community der Fotojournalisten für
bare Münze genommen hat.
Er ließ ein Essay von Künstlicher Intelligenz schreiben und Leser*innen hielten das für
authentisch.
Was lernen wir daraus?
Wir müssen kritischer werden.
Wir dürfen Bildern nicht einfach pauschal vertrauen.
Und außerdem lerne ich daraus, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis wir um uns rum
Texte und Medienprodukte haben, die verdammt authentisch aussehen werden.
Foto Menschen
Ich habe mir eine signierte Fassung dieses Buchs bestellt.
Denn ich finde die Geschichte und den Prozess hinter „The Book of Veles“ durch und durch
faszinierend.
Außerdem gefallen mir die Fotos, die ich bisher davon gesehen habe.
Jonas Bendixen sagt selbst, dass er für diese Fotos im Prinzip neu lernen musste, wie ein
typisches Jonas Bendixen-Foto aussieht.
Immerhin musste er im Computer Lichtsituationen nachbilden und sich überlegen, wie hätte
er denn Menschen fotografiert in Veles, wenn er sie denn angetroffen hätte.
Ich glaube, dass es ein Buch, das Geschichte geschrieben hat.
Außerdem enthält es schöne Fotografie.
Aber das ist vielleicht mal eine Diskussion für einen anderen Tag, warum ich glaube,
dass auch solche Montagen durchaus fotografische Werke sind.

3 Responses

  1. Peter sagt:

    Herzlichen Dank /

  2. oli sagt:

    Scary! Echt scary was man machen kann, wenn man will. Und wie weit man damit kommt! 😮

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