15. November 2021

Versteckte Mütter

====> 30x Fotogeschichte(n) - Ein Lesebuch für Fotograf*innen mit und ohne Kamera <====

Babies hassen es von ihren Müttern getrennt zu sein. Darum darf man sich bei fast jedem Baby-Portrait sicher sein: Irgendwo ist die Mama, manchmal vielleicht sogar als Stuhl getarnt…


Transkript

Seit ich mit diesem Podcast angefangen habe, begegne ich immer wieder Genres, von denen ich nicht gewusst habe, dass sie jemals existierten oder existieren. So zum Beispiel die Hidden Mother Photography.

Als die Menschheit mit der Fotografie begann, war das noch eine zeitaufwändige Prozedur. Manchmal mussten mehrere Minuten Belichtungen ausgehalten werden und deswegen dauerte es auch ein Weilchen, bis die ersten Portraitstudios ernsthaft ihre Dienste anbieten konnten.

Und die waren nach wie vor aufwändig. Ganz am Anfang musste man bei strahlendem Sonnenschein auftauchen und wurde dann unter freiem Himmel fotografiert, oder man befand sich minutenlang unbeweglich eingespannt in einer Halteapparatur in einer Art Glasgewächshaus und schwitzte vor sich hin, auf jeden Fall war das Portraitieren von Menschen am Anfang kein Spaß, vor allem für die portraitierten nicht.

Gleichzeitig fotografierten wir aber auch schon immer, was wir besonders liebten. Und was lieben wir mehr, als unsere Kinder und Kätzchen? Kätzchen und Kinder, besonders die jungen, lassen sich am besten dann fotografieren, wenn sie engelsgleich schlafen. Aber das tun die jetzt nicht immer und vielleicht auch nicht lang genug, insbesondere dann, wenn sie in einer ungewohnten Umgebung sind, mit ungewohnten Geräuschen und Gerüchen und wenn das Schatzelchen denn jetzt nun aufwachte, war es auch gleich nicht mehr fotogen, denn, wenn die Mama nicht irgendwo in der Nähe war, gab es halt Randale.

Eine Lösung musste also her. Wenn man denn nicht sowieso gleich im Familienkreis fotografieren wollte, sondern vielleicht auch nur das Baby aufs Bild bannen, dann musste die Mama irgendwo in der Nähe sein. Konnte man Erwachsene noch einfach in irgendwelche Metallgestänge einspannen, sodass sie bewegungslos blieben, konnte die Mama natürlich unter Umständen ganz anders auf das Kleinchen einwirken. Wollte man aber ein Bild, wo da nur das Kind ist, dann muss die Mama wie der Stuhl aussehen. Oder wie der Vorhang hinter dem Kind.

Und genau das ist die Geburtsstunde des Genres, das man „Hidden Mother Photography“ nennt, ein Genre, dem wir ohne das Internet eigentlich nie begegnet wären. Denn da kam es im Jahr 2010 zu einem regelrechten Boom. Es hatte schon eine ganze Weile verschiedene Sammler gegeben, die Daguerreotypien von Babys und Kleinkindern mit verdeckten Erwachsenen im Hintergrund gesammelt haben. Als das Internet genügend verbreitet war, fingen die an, ihre Sammlungen zu digitalisieren und online zu stellen. Flickr legte ein Album dafür an und verschiedene Museen wurden darauf aufmerksam und begannen Ausstellungen zu organisieren.

Heute kennen wir einige tausend Daguerreotypien mit Kleinkindern und Babys und mal mehr, mal weniger kunstvoll versteckten Müttern. Und in unserer heutigen Hochgeschwindigkeitsdigitalfotografiewelt amüsieren wir uns auch einigermaßen darüber. Denn das Baby muss ja nicht lange stillhalten, damit wir ein schönes Foto machen können.

Das Genre an sich gibt es also in abgewandelter Form auch heute noch. Zwar muss die Mama sich nicht mehr als Stuhl oder Vorhang tarnen lassen, sondern steht entweder außerhalb des Bildbereichs oder wird nachträglich mit Photoshop entfernt, aber ganz allgemein gehen wir immer noch erstaunliche Wege, um zu verhindern, dass die Mutter mit im Bild ist.

Jetzt ist ja während ich das aufnehme gerade wieder kurz vor Weihnachten und die Läden sind voll mit Kalendern und Grußkarten. Und je süßer wir werden wollen, desto kindlicher wird das Ganze. Und da begegnen wir einer der berühmtesten und erfolgreichsten Fotokünstlerinnen der Welt. Und einer Persönlichkeit, bei der ich mir ehrlich gesagt gar nicht sicher war, ob ich darüber reden möchte, weil ich diese Fotos so unerträglich kitschig finde, ihr aber damit, wie ich inzwischen weiß, wahrscheinlich einfach mal Unrecht getan habe.

Die Rede ist von Anne Geddes. Ich beklage ja gerne, dass Fotografinnen und Fotografen irgendwie nicht zur Allgemeinbildung gehören zu scheinen. Aber ich glaube, mich aus dem Fenster lehnen zu können und zu behaupten, Anne Geddes ist da eine Ausnahme der Regel. Sie ist überdurchschnittlich bekannt. Und wer den Namen nicht kennt, kennt zumindest ihre Fotos. Ein Baby, das als Sonnenblume verkleidet ist, zwei schlafende Zwillinge, die in einem Bastkörbchen auf einer rosa Wolke zu schweben scheinen, es sind tatsächlich Säuglingsbilder, mit denen Anne Geddes berühmt wurde und durch die sie ihren Namen gemacht hat.

Mit der Fotografie hatte die Australierin ungefähr im Alter von 25 Jahren begonnen. Sie hatte sich aus einer Laune heraus die Familienkamera, damals eine Pentax, gegriffen und damit zu fotografieren begonnen. Als sie geheiratet hatte und mit ihrem Mann nach Hongkong gezogen war, wollte sie zum Familieneinkommen beitragen und hatte Freude an der Fotografie gefunden und so beschloss sie, ein Portraitstudio zu eröffnen.

Zehn Jahre lang machte Anne Geddes all das, was man in einem Portraitstudio so macht. Bewerbungsfotos, Familienbilder, Pärchenfotos und immer wieder auch mal Bilder von kleinen Kindern. Und jede Fotosituation und jedes Alter hat natürlich dann seine ganz eigenen Herausforderungen. Schnell hat sie dabei dann auch entdeckt, dass sie eine Faszination für gerade das Neugeborene oder sehr junge Leben hatte. Grenzenloses Potenzial steckt da drin.

Zehn Jahre sind eine lange Zeit und irgendwann wird auch die originellste Portraitfotografin etwas gelangweilt von der täglichen Routine. So ging es auch Anne Geddes und so fing sie an, mindestens einmal im Monat ein Foto nur für ihren eigenen Gebrauch zu machen. Und sie beschloss, einen Kalender zu produzieren. Sie überlegte sich ein Fantasythema und begann, Fotos zu produzieren, die in dieses Thema passen.

Der Kalender war dann schnell produziert und als es dann auf das Jahresende zuging, verkaufte sie ihn in ihrem Studio und hatte einen enormen Erfolg damit. Die Motive, so unglaublich kitschig sie auch waren, schlagen eine emotionale Note an. Viele Menschen lieben Fotos von Neugeborenen, besonders, wenn sie auf so eine interessante Art und Weise dargestellt werden.

Wir haben ja heute das Gefühl, dass das zum Standardrepertoire gehört, also Babys in irgendwelche super kitschigen Accessoires zu stecken. Aber als Anne Geddes damit anfing, war das eine komplett neue, frische Idee. Kleine Feenkostümchen, Flügelchen, Babys als Schmetterling, eieiei. Aber so, wie viele Menschen Bilder von roten Sonnenuntergängen lieben, sind eben Babyfotos auch Evergreens.

Und so kombinierte Anne Geddes etwas, das sie liebte, mit etwas, das offensichtlich kommerziell Erfolg hatte. Und heute, gut 30 Jahre später, ist sie eine der meistverkauften Fotografinnen der Welt. Über 18 Millionen Bücher, über 13 Millionen Kalender, eine der wenigen Fotografen, die überhaupt jemals auf der Bestsellerliste der New York Times gelandet sind, sehr zu ihrer Überraschung, übrigens, eine Kooperation mit Celine Dion und immer öfter stellt sie ihre Kunst inzwischen auch in wohltätige Dienste.

Wer übrigens bei Anne Geddes diese quietschbunten, kitschigen Fotos als Erstes im Kopf hat, möge mal auf ihrer Website vorbeisurfen. Inzwischen sind da eine Menge Schwarzweißbilder zu sehen und allgemein, muss ich zugeben, sind die Bilder geschmackvoller, als ich zunächst aus Erinnerung der ganzen Kalender, die ich über die Jahre wahrgenommen habe, gedacht hätte.

Und all diese Fotos, für die Anne Geddes berühmt geworden ist, sind natürlich ohne Mutter. Hidden Mother Photography, sozusagen. Und wie schon bei anderen Genres ist es ja so, dass wir als, sagen wir mal, Orthonomalfotograf*innen ja auch oft nachahmen, was wir gesehen haben und was uns gefallen hat. Und deswegen gibt es nicht nur die 13 Millionen Kalender, die Anne Geddes höchstselbst herausgegeben hat, mit solchen Motiven, sondern ungezählte privat fotografierte Kalender, die ganz ähnlich oder zumindest davon inspiriert sind. So funktioniert halt Popkultur und gerade bei der Fotografie finde ich das großartig.

2 Responses

  1. simohn sagt:

    Bei „versteckte Mütter im Sessel“ fällt mir das Making of von THE RAID 2 ein:
    https://www.youtube.com/watch?v=kxb9xzAaYjM
    So haben sie eine Kamerafahrt durch ein fahrendes Auto gedreht.
    geiler Film, wenn du blutige(!) Action magst!
    …und mal was kommentiert 🙂
    gruss simon

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